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Darum geht es bei der Schulreform

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Die Schulreform in Österreich, seit einem Jahrzehnt konkret in Gang, muß in diesem Jahr wieder eine Hürde passieren - die Fristen für die Schulversuche laufen db. Im Nationalrat ist eine Zweidrittelmehrheit für ihre Verlängerung oder Erklärung zum Regelfall erforderlich: Immer neue Ausdrücke für alte oder auch für veränderte Modelle schaffen immer mehr Verwirrung. Worum geht es eigentlich? Wo werden die Begriffe bewußt oder leichtfertig vernebelt?

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Die Schulreform in Österreich, seit einem Jahrzehnt konkret in Gang, muß in diesem Jahr wieder eine Hürde passieren - die Fristen für die Schulversuche laufen db. Im Nationalrat ist eine Zweidrittelmehrheit für ihre Verlängerung oder Erklärung zum Regelfall erforderlich: Immer neue Ausdrücke für alte oder auch für veränderte Modelle schaffen immer mehr Verwirrung. Worum geht es eigentlich? Wo werden die Begriffe bewußt oder leichtfertig vernebelt?

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Die Erleichterung schien greifbar, daß es bei der Diskussion um das Kapitel „Unterricht" in der Budgetdebatte im Nationalrat nicht zu einem „Kulturkampf" gekommen war. Auf die Erklärung des ÖVP-Sprechers Alois Leitner, daß die große Oppositionspartei die Ganztagsschule ebenso ablehne wie den „Eintopf der Gesamtschule, konterte SPÖ-Vertreter Hermann Schnell, daß die SPÖ die „Eintopf'-Schule ebenso ablehne wie die „Zweitopf'-Schule der nebeneinanderlaufenden traditionellen Schultypen.

Nachdem FPÖ-Schulmann Friedrich Peter noch die Ausbildung der Gymnasiallehrer kritisiert und Unterrichtsminister Fred Sinowatz versichert hatte „Wir haben für das Elternrecht im Schulwesen soviel getan wie niemand vorher", konnte man beruhigt zum Kapitel „Wissenschaft" fortschreiten.

„AZ"-Chefredakteur Manfred Scheuch, dessen Leitartikel man die erwähnte Erleichterung anmerken konnte, half dann noch nach, alle Klarheiten restlos zu beseitigen, versicherte er doch wörtlich: „Da es den Sozialisten ... nie darum gegangen ist, dem Land Ganztags- und Gesamtschule als alleinseligmachendes Modell zu verordnen, wird es von ihrer Seite jedenfalls keine unüberwindlichen Hindernisse für eine einvernehmliche Lösung geben, vorausgesetzt, daß diese die im Schulversuch erfolgreichen und von vielen Eltern verlangten Schulformen als zusätzliches Angebot enthält."

Scheuch hatte hier erneut vorgeführt, was seit langem ständige Übung ist: er hat zwei Aspekte miteinander vermischt, die überhaupt nichts miteinander zu tun haben, deren Vermengung aber mithilft, die Gemüter zu vernebeln und die tatsächlichen Absichten zu verschleiern.

Er tat dies, obwohl Schnell wie Sinowatz eindeutig nur die Ganztagsschule und nicht die Gesamtschule als Alternativangebot bezeichnet hatten; obwohl Schnell erst vor wenigen Wochen in einer Diskussion mit Bildungsjournalisten eindeutig das Ziel seiner Partei - allein die Gesamtschule - bekanntgegeben hatte und obwohl Sinowatz wenige Monate vorher, als er die Gesamtschule plötzlich als „Neue Mittelschule" präsentierte, diese nur „temporär" als neben den herkömmlichen Formen denkbar bezeichnet hatte. Ist diese Vermengung Absicht oder beruht sie auf sträflichem Nichtwissen?

Ganztagsschule und Gesamtschule haben nur den ersten Buchstaben gemeinsam.

Die Frage, ob die ganztägige Betreuung der Schüler in einer Ganztagsschule oder in einer Tagesheimschule erfolgen soll, betrifft ebenso Grundschulen wie „Mittelstufen" oder volle Gymnasien: • Die Ganztagsschule verteilt Unterricht, Ubungs-, Spiel- und Freizeiten über den ganzen Tag, womit ein

zeitweiliges Ausspringen, etwa um privaten Musikunterricht zu genießen, unmöglich wird.

• Die Tagesheimschule konzentriert den Unterricht - wie die übliche Halbtagsschule - auf den Vormittag und sorgt am Nachmittag für Beaufsichtigung bei den Schulaufgaben, bei Sport und Freizeitbeschäftigung; ein Weggehen ist mit Einverständnis der Eltern jederzeit möglich. Daher wird dieser - von der ÖVP bevorzugte - Typ auch dort als besser geeignet erachtet, wo nur ein Teil der Schüler am Nachmittag eine Beaufsichtigung braucht.

Durch die Vermischung jedoch wird vernebelt, daß das politische Kernproblem in der Gesamtschule verborgen liegt - und auch hier nur in einem Teilaspekt: der Forderung der Sozialisten nach „sozialer Integration".

Die Sozialwissenschaftliche Arbeitsgemeinschaft (SWA) hat in einer kürzlich vorgelegten Studienarbeit die Entstehung der Schulreformkommission vor zehn Jahren, ihre bisherige Tätigkeit und speziell das Schulversuchsmodell „Gesamtschule" unter die Lupe genommen.

Als 1969 das Volksbegehren zur Abschaffung des damals noch gar nicht realisierten neunten Gymnasialjahres Erfolg hatte, beauftragte der Nationalrat Unterrichtsminister Alois Mock, eine Reformkommission einzusetzen, in deren Themenplan unter zehn Punkten auch die „Schule der Zehn- bis Vierzehnjährigen" stehen sollte.

Diese Bezeichnung sollte andeuten, daß man neue Wege suchte, die im Ausland als „Sekundarstufe I" benannte Mittelstufe zu reformieren, ohne daran zu erinnern, daß die Sozialisten in der Zwischenkriegszeit , die Einheitsschule gefordert hatten, aber auch ohne darauf aufmerksam zu machen, daß hierin die Unterstufe der bewährten Gymnasien und Realgymnasien aufgehen sollte, die durch die Reform von 1962 mit dem unaussprechbaren Titel der „Allgemeinbildenden Höheren Schule" versehen worden waren.

Für diese „Schule der Zehn- bis Vierzehnjährigen" sollte es, wie bald festgelegt wurde, drei Modelle geben:

• Die Orientierungsstufe, die die

Schüler erst nach der sechsten Schulstufe (also mit 12 Jahren) in die bestehenden Schultypen weiterführt;

• die additive Gesamtschule, die

Hauptschule und Untergymnasium räumlich und verwaltungsmäßig zusammenschließt und damit einen Wechsel von einer Type in die andere erleichtern soll;

• die integrierte Gesamtschule

(IGS), für die es wieder verschiedene Varianten gibt. Grundsatz für sie ist oder sollte sein, daß alle Kinder eines Sprengeis aufgenommen werden, um dann in Deutsch, Mathematik und lebender Fremdsprache auf drei verschiedene Leistungsgruppen aufgeteilt, in allen anderen Fächern aber gemeinsam unterrichtet zu werden.

Da Orientierungsstufe und additive Gesamtschule nur in je einem Versuch laufen, können sie hier vernachlässigt werden. Die Tatsache aber, daß für die Integrierte Gesamtschule 113 Versuchsschulen mit 48.000 Schülern in 1256 Klassen eingerichtet wurden, unterstreicht die Bedeutung, die das Ministerium diesem Modell beimißt.

In der Diskussion der letzten Jahre sind nun weitere Bezeichnungen

aufgetaucht und als Alternativen angeboten worden. Sie sind dazu geeignet, die Gemüter mehr zu verwirren als zu erleuchten:

• Die „Neue Mittelschule" wurde von Minister Sinowatz im Sommer 1979 proklamiert, um der negativen Besetzung des Begriffs „Gesamtschule" auszuweichen, ohne daß sich am Inhalt etwas geändert hätte.

• Die „Neue Hauptschule" wurde von der ÖVP vorgestellt. Sie übernimmt die Idee von Leistungsgruppen aus der Gesamtschule, ohne jedoch die Unterstufe des Gymnasiums mit einzubeziehen.

• Die „Neue Mittelstufe" wurde vom Arbeitskreis „Schulreform" des Katholischen Akademikerverbandes und der Wiener Katholischen Aka-

demie vorgelegt (wobei sich jedoch der Akademikerverband Wien davon distanzierte), um die Schwächen der anderen Systeme zu überwinden. Dieses Modell tritt - wie die Gesamtschule - für die gemeinsame Erziehung aller Kinder ab zehn in einer Schule ein, will aber eine „TypenVielfalt bei völliger Gleichwertigkeit der Typen" durch ein aufsteigendes System von Pflichtfächern, Vertiefungsfächern und Wahlfächern erreichen.

• Die „Erneuerte Hauptschule"

schließlich wird vom Katholischen Familienverband propagiert. Sie schließt an das Modell der Orientierungsstufe an, teilt aber von der siebten Schulstufe in einen Zweig, der für ein Aufsteigen in eine weiterführende Schule vorbereitet - ohne die achtklassige Vollform des Gymnasiums in Frage zu stellen - und in einen praktischen Zweig, der den besonderen Anforderungen mehr handwerklich begabter Kinder entsprechen sollte.

Die Alternativmodelle können die Diskussion bereichern. Kern dieser Diskussion bleibt jedoch die Integrierte und Differenzierte Gesamtschule, die das klar vorgezeichnete Ziel der sozialistischen Bildungspolitik ist. Im Parteiprogramm der SPÖ vom 20. Mai 1978 heißt es wörtlich:

„Die Verwirklichung unserer bildungspolitischen Grundsätze erfordert eine Veränderung des bestehenden Bildungssystems."

Unter den Schwerpunkten der „permanenten Schulreform" heißt es an dritter Stelle:

„Verwirklichung der gemeinsamen Schule aller Zehn- bis Vierzehnjährigen."

Zu den Leitvorstellungen der Gesamtschule heißt es in den Schulver-suchsplänen des Unterrichtsministeriums:

„Die Sekundarstufe I ... hat ... eine wesentliche Aufgabe in der pädagogisch und bildungspolitisch zufriedenstellenden Bewältigung des Selektionsauftrags der Schule ... Die schulorganisatorischen und didaktischen Maßnahmen, die im Interesse der bestmöglichen Förderung jedes einzelnen Kindes getroffen werden, sollen zur Verwirklichung der volks-

wirtschaftlich begründbaren Forderung nach Ausschöpfung der Begabungsreserven beitragen. In einer Zeit, in der Bildung als gleichwertiger Produktionsfaktor neben Boden, Kapital und quantitatives Menschenpotential tritt, hängt der wirtschaftliche Fortschritt wesentlich davon ab, ob es gelingt, alle Leistungspotenzen der Gesellschaft zu erfassen, sie bestmöglich zu fördern und zu entfalten ..."

Die Zielparagraphen meinen dann weiter, dem Schulwesen werde in einer demokratischen Gesellschaft auch die Aufgabe zugewiesen, zur sozialen Integration beizutragen. Hierfür sei jedoch Voraussetzung „... eine Schulorganisation, die eine frühzeitige Einordnung der Schüler in Schultypen vermeidet, die nach ihrer Tradition und ihrem Selbstverständnis sozialschichtenspezifische Akzente haben."

„Die Integrierte Gesamtschule will zwei entgegengesetzte Anliegen verwirklichen: Integration / Vereinheitlichung und Differenzierung / Individualisierung", kommt die SWA-Untersuchung zum Schluß. „Sie kann diesen Widerspruch nicht zufriedenstellend, ohne Vernachlässigung jeweils eines Aspektes überbrücken. Sie kann nicht der ganzen Bandbreite an Schülerbegabungen gerecht werden. Sie muß die Schüler entweder über- oder unterfordern."

Chancengleichheit, soziale Integration, Ausschöpfen der Begabungsre-

serven, bessere Förderung des einzelnen Schülers - lauter ehrenwerte Zielsetzungen. Aber noch nirgends konnte zwingend nachgewiesen werden, daß die.Gesamtschule diese Ziele besser erreicht als andere, bestehende Schultypen, heißt es weiter in der SWA-Analyse.

Vor allem aber - über die pädagogischen Probleme hinaus:

„Es gibt auch Befürworter der Gesamtschule, für die die Einführung nur ein Vehikel zu einer revolutionierenden Veränderung der Bildungsziele und Bildungsinhalte darstellt", heißt es in der SWA-Untersuchung. Es gebe unterschiedliche Auffassungen darüber, ob die Leistungsdifferenzierung aufrechterhalten werden solle. Die Broschüre weist-auf den Antrag der SPÖ-Organisation Wien-Brigittenau zum SPÖ-Parteitag 1978 hin, in dem es hieß:

„Gerechtigkeit ist in diesem Bereich erst dann gegeben, wenn durch gezielte Ungleichbehandlung möglichst alle Kinder zu denselben Ergebnissen kommen."

Minister Sinowatz pocht auf die Leistungen zugunsten des Elternrechts in der Schule? Er hat recht, wo er an die Mitbestimmung der Eltern in den Gemeinschaftsausschüssen denkt. Wenn aber die, Gesamtschule als einzige Schulform für die Zehn-bis Vierzehnjährigen Wirklichkeit würde - der Wiener Stadtschulrats-präsident Schnell ist der Meinung, damit wäre dem Elternrecht genügend Rechnung getragen, da dann für alle Kinder die optimale Schulform vorhanden wäre - .würde das Elternrecht tatsächlich eine Einschränkung ■ erfahren.

„Soll das dem einzelnen und der kleinsten Gemeinschaft im Staat, der Familie, entgegenkommende Elternrecht wegen kollektivistischer Tendenzen eingeschränkt oder gar geopfert werden?" fragt die SWA-Untersuchung.

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