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Das Alibi der Exkommunisten

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Wolfgang Leonhard, Wiener, Zögling der Komintern, Staatsgründer der DDR in der ersten Stunde, jetzt Exbolschewik, bringt im Molden-Verlag die Erinnerungen einer Schicksalsgefährtin heraus: Aino Kuusinen, prominente Kommunistin aus Finnland, Kominternagentin, So-wjetspionin und (im Unterschied zu Leonhard) 15 Jahre lang politischer Häftling in der UdSSR. Bis auf dem Höhepunkt des Lebens haben der Österreicher und die Finnin den Zug des dogmatischen Sowjetmarxismus auf weite Strecken anstandslos benutzt.

Jene Mentalität, wie sie im Umkreis der Neuen Linken vielen Intellektuellen in der freien Welt des Westens eigen geworden ist, erspart heute den Exkommunisten das fatale Image der Neubekehrten: Da der Kommunismus nach wie vor o. k. ist und nur das Sowjetsystem seit Stalin nicht mehr o. k. sein kann, ist ein Bolschewik von gestern o. k. und daher ganz anders zu bewerten als ein früherer Rechtsradikaler.

Carl Amery, Vorkämpfer eines „kritischen Katholizismus“, distanziert sich in seinem neuesten Buch „Das Ende der Vorsehung“ von jenem „christlich-progressistischen“ Denkmodell, bei dessen Herstellung sich während der sechziger Jahre „fast alle neueren Theologen“ und die „marxistischen Denker“ zusammentaten. 1962 hat Wolfgang Leonhard eines der „guten Bücher für jedermann“ der Fischer-Reihe herausgebracht, die in der Geburtsstunde des „Anti-Antikommunis-mus“ damals fällig waren: zusammen mit dem Jesuiten Gustav A. Wetter produzierte er eine „Sowjetideologie“. Bei aller „Divergenz der Positionen“ sollten sich „objektive, beweisbare Tatbestände“ über bloß „spekulative“ Studien erheben. So wie in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen jenes „Hände weg von Sowjetrußland“ Testformel des Linksintellektualismus für Fortschrittlichkeit wurde, ist heute „Antikommunismus“ in gewissen „gebildeten Kreisen“ nicht mehr als ein stumpfsinniges Sammelsurium aus: US-Imperialismus, Kapitalismus, Militarismus, Revanchismus, Kolonialismus, politischem Katholizismus usw. Wer sich als moderner Anti-Antikommunist von derlei „unqualifiziert-emotionalen“ Ansichten distanziert, ist fortan einer wissenschaftlichen Orientierung fähig; wer sich diesem Nachholunterricht in Marxismus nicht stellt, ist nicht mehr als ein stur gewordener Spätheimkehrer aus dem „kalten Krieg“.

Bevor Wolfgang Leonhard die Ex-gattin des Altbolschewiken und Uberdauerers von Lenin bis nach Chruschtschow, W. Kuusinen

(t 1964), in den Zeugenstand ruft, muß er in seinem Vorwurf der 1970 verstorbenen Aino Kuusinen einen gehörigen Abstand zu dem nachweisen, was der „wahre Kommunismus“ ist. Demnach ist die Dame aus Finnland auch nach 15 Haftjahren in der UdSSR noch immer Dame und auch als Siebzigerin kokett; in ihrem Leben haben „soziale, politische oder gar weltanschauliche Fragen keine entscheidende Rolle gespielt“; nachdem sie die Ideale einer christlichen

Missionsschwester, einer modernen Krankenpflegerin und einer gutbürgerlichen Ehefrau aufgegeben hatte, machte sich diese „Revolutionärin“ hinter dem Berufsrevolutionär O. W. Kuusinen her, bis sie ihn in Moskau stellen und heiraten konnte. Und so kann die alte Dame auch nach den Erfahrungen im Umgang mit Sowjetgefängnissen dem Kommunismus nicht böse sein: er verschaffte ihr „Gefahren, Abenteuer und Ris-ken“, an denen sie Lust hatte und die es in keiner guten Stube geben kann.

Wer noch nicht weiß, wie es in Workuta zugeht oder in einem noch bestehenden KZ, der erfährt es in diesem Buch. Und einmal mehr bestätigt sich die Theorie gewisser Psychiater: Im KZ gibt es keine Neurosen; was den „normalen Menschen“ zerbricht, ist die Chance zum Überleben des Neurotikers. Natürlich wird in diesem Buch vieler tragischer Opfer des Systems gedacht. Aber: es handelt sich dabei immer nur um Kommunisten, denen die Suche nach dem wahren Kommunismus das Leben kostete; von den „anderen“ Millionen, die als Klassenfeinde ausgerottet wurden, ist (frei nach Hölderlin) keiner zuviel gefallen. Ansonsten sind die Erfahrungen, die die Dame aus Finnland im Umgang mit dem Sowjetsystem machte, unterschiedlich: Sie klagt das System an, das sie ohne Grund und ohne Verfahren 15 Jahre lang in harter Haft hielt, während der Zarismus doch Lenin ein recht faires Verfahren und ein ebensolches in der Verbannung (nicht Haft!) zuteil werden ließ (Seite 249). Die ungewollte

Reverenz vor dem Ancien Regime sinkt bis zu dem Niveau, wo die Dame ausstellig vermerkt, ihr hätte man im roten Kreml nur die ehemalige Dienstwohnung eines hohen zaristischen Funktionärs bei Hof zugemutet. So schlecht geht es proletarischer Kultur in den Palästen der Feudalen.

Nein: auch Aino Kuusinen ist kein character of her own in den Reihen der Revolutionäre. Sie ist vielmehr Modellfall dieses Typs. Aus begüterten und intellektuellen Kreisen kommend, hat sie nie nach Brot hungern müssen, außer in den Gefängnissen der Revolution; sie hat nach Aufregungen, Macht und Prestige gehungert, wohl auch nach Annehmlichkeiten des Lebens, und sie hat keinen Grund, dem Kommunismus undankbar zu sein after all; was sie erwarten konnte, bekam sie, wie alle Revolutionäre seit 1789. Aino Kuusinen hat bloß die Ultima ratio der Revolution nicht mitbekommen: Revolutionäre machen „ihre“ Revolution; aber dann ist Schluß mit derlei. Der Dame aus Finnland kostete dieses Mißverständnis 15 Jahre Freiheit; für Millionen andere kostete die Revolution von 1917 (neuerdings laut Ernst Bloch nicht mehr „befreiend“, sondern nur noch „groß“) das Leben. Allerdings nur das wertlose Leben eines Antikommunisten.

DER GOTT STÜRZT SEINE ENGEL. Von Aino Kuusinen. Herausgegeben von Wolfgang Leonhard. Molden-Verlag 1972, 352 Seiten.

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