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Das Alter aufwerten

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Die über 65jährigen stellen den am schnellsten wachsenden Bevölkerungsanteil dar. Dieser Prozentsatz hat sich dank der enorm gestiegenen Lebenserwartung seit der Jahrhundertwende, besonders aber nach dem Zweiten Weltkrieg vervielfacht. Wie wirkt sich dies auf die Einstellung zum Alter aus?

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Die über 65jährigen stellen den am schnellsten wachsenden Bevölkerungsanteil dar. Dieser Prozentsatz hat sich dank der enorm gestiegenen Lebenserwartung seit der Jahrhundertwende, besonders aber nach dem Zweiten Weltkrieg vervielfacht. Wie wirkt sich dies auf die Einstellung zum Alter aus?

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Besonders in den Industriestaaten wird der Anteil der Senioren weiter steigen: Bis 2025 wird weltweit ein Anwachsen von derzeit 6,5 Prozent auf 9,3 Prozent erwartet, in der „Al-ten"-Republik Österreich von 15 Prozent (Wien: über 21) auf mehr als das Doppelte. Das jetzt bei 75 Jahren (Frauen: 78, Männer: 72) liegende Durchschnittsalter steigt weiter an. Die Ursachen dieser Phänomene sind noch gar nicht genau geklärt. Obwohl Alter und Krankheit an sich nicht identisch sind, nimmt die Wahrscheinlichkeit und Häufigkeit von Erkrankungen und Behinderungen mit den Jahren zu, sodaß immer mehr Senioren vorübergehend oder dauernd be-handlungs-,hilfs-oderpflegebedürftig werden.

Die Zahl der ganz oder teilweise hilfs- und pflegebedürftigen älteren Personen wird in Österreich gegenwärtig auf 350.000 geschätzt, für das dritte Jahrtausend um mindestens 36 Prozent mehr.

Die positiven Lösungsansätze für diese große medizische und soziale Aufgabe manifestieren sich zunächst in einem Aufschwung der Geriatrie, der Altersheilkunde, die beglückende Erfolge im Bereich von Therapie, Rehabilitation und psychologischer Betreuung aufzuweisen hat. Sie vermag dadurch einen ganz entscheidenden Beitrag zur Verbesserung und Erhaltung der Lebensqualität und Lebensfreude sowie zur Linderung des Leidensdrucks zu leisten. Es ist keine Seltenheit, daß Ältere und selbst Hochbetagte erfreulich vital sind, biologischjünger, als dies dem Geburtsdatum entspricht. Trotz mehrfacher Erkrankung haben sie oft noch etliche Jahre in voller Lebensbejahung vor sich. Eine fachgerechte Behandlung ist also durchaus sinnfällig.

Die Geriatrie hat sich als eigenständiger, integrativer Zweig der Medizin in den meisten Staaten längst etabliert. Paradoxerweise fehlt aber gerade in unserem Lande die so wichtige legistische und universitäre Verankerung, obwohl sich Österreich, besonders Wien, auf diesem Sektor wissenschaftlich und durch die Schaffung moderner sozialmedizinischer Einrichtungen große Verdienste erworben hat. (Die spitalsmäßig ausgestatteten großen Wiener Pflegeheime sind, un geachtet der nomenklaturbedingten Vorurteile, Stätten effizienter Geriatrie).

Das Engagement, mit dem die soziale und pflegerische Betreuung von (kranken) Senioren zu Hause oder in speziell hierfür errichteten Institutionen betrieben wird, ist ein weiteres Beispiel für das konstruktive Echo auf die große Aufgabenstellung.

Trotz dieser Fortschritte reichen aber die Ressourcen und Strukturen bei weitem nicht aus, um zu verhindern, daß immer mehr Senioren auf die Schattenseite der Wohlstandsgesellschaft geraten. Die positiven Denkanstöße werden in zunehmendem Maße mit kontraproduktiven Strömungen konfrontiert: Im Selbstverwirklichungsprofil der jungen Erfolgsgeneration haben oft nur nüchterne Wirtschaftsdaten, Machbarkeitsstudien, Qualitätssicherungsnachweise und ehrgeizige Großprojekte Platz, hinter denen ethische und soziale Prioritäten (und auch die eigene Alterung!) zurücktreten oder verdrängt werden.

Noch schlimmer wirkt sich das fortschreitende Versagen der Familienfunktion aus, besonders in den Städten: Immer mehr jüngere und berufstätige Menschen empfinden die Sorgepflicht für die älteren Hilfs- und Pflegebedürftigen als Überforderung und unerträgliche Belastung, die sie abzuschieben trachten.

Der aus diesen Wurzeln entspringende, alles beherrschende Gedanke: „Können wir uns das alles wirklich leisten?" ist sicherlich eine wesentliche Quelle für latente oder unverhohlene „Gerontophobie" oder gar „Ge-ronto-Aggressiön" (Anst vor dem Alter und Aggression dagegen). Dann sieht man in den Alten letztlich „unproduktive, unnütze, wertlos und zukunftslos gewordene" Mitglieder der Gesellschaft, die den anderen in jeder Weise zur Last fallen und eine dementsprechend restriktive Verteilung der Mittel „rechtfertigen".

Unter diesen Aspekten zeichnen sich fließende Übergänge zu einem Abhalfterungsdenken ab, das in einigen Industrieländern bereits zur regelrechten Aussetzungen von kranken Senioren, zu Ghettoisierungs-Überlegungen oder gar zu Euthanasie-Diskussionen geführt hat.

Von diesen Auswüchsen abgesehen, verrät aber auch der tägliche Sprachgebrauch mit seinen oft abschätzigen Üntertönen gegenüber den „Alten", mit inhumanen Ausdrücken wie „Pflege-Fall" oder „Pflegling" negative Werturteile. Auch in der Praxis muß der geriatrische Patient viele Nachteile in Kauf nehmen, die aus seinem reduzierten Sozialstatus und -prestige resultieren.

Umdenken ist gefordert! Jede demokratische Gesellschaft hat die moralische Verpflichtung, gerade für ihre schwächsten und bedürftigsten Mitglieder ausreichend zu sorgen, wobei es primär um humanitäre Dienstleistungen und nicht um Fragen der Rentabilität und Gewinnorientierung geht. Budgetäre und strukturelle Benachteiligung der geriatrischen Medizin und der Seniorenversorgung würde eine Zweiklassengesellschaft statt gleichen Rechts für alle auf jeweils optimale Behandlung und Betreuung ' bis ans Lebensende festschreiben.

Die notwendigen Gesetze und Maßnahmen sollten sich den geänderten Bedingungen anpassen und nicht hinter den tatsächlichen Erfordernissen nachhinken. Selbst bei Außerachtlassung aller ethischen Normen wird die Frage unausweichlich: Ist die Lebensqualität unserer Alten nicht genauso „erhaltungswürdig" wie unsere Umwelt? Dazu kommt noch, daß die Erfüllung dieser Aufgabe keineswegs ein reines „Verlustgeschäft" sein muß: Geriatrie, Seniorenbetreuung und -pflege bringt ja, ebenso wie Umweltreparatur, neue Arbeitsplätze und Beschäftigung für bestimmte Industriezweige. Manche Politiker haben bereits erkannt, daß sich das immer größer werdende (Wähler-)Potential der Senioren gegen die Diskriminierung aufzulehnen beginnt (Graue-Panther-B e wegung!).

In der Gemeinschaft besteht aber außer der sozialen auch eine christliche Mitverantwortung, der Auftrag zur Neu-Motivierung der Familien, zur erhöhten Opferbereitschaft gegenüber hilfs- und pflegebedürftigen Senioren. Jeder Tag, den wir älteren Mitmenschen zu verschönern suchen, kann eine neue Gelegenheit für fruchtbringendes Sozialleben und gute Werke sein!

Freilich ist es noch ein weiter Weg bis zu eindeutigen Bekenntnissen und ausreichenden praktischen Maßnahmen, die den qualitativen und quantitativen Dimensionen der Problematik angemessen sind. Immerhin haben Bestandsaufnahme und Bewußt-machungsprozeß bereits eingesetzt. Skepsis ist erlaubt, Hoffnung, Wohlmeinung, gute Ideen und zielführendes Handeln sind dringend gefragt, international und in Österreich.

Eines aber ist sicher: Über den wahren Wert jedes einzelnen menschlichen Lebens hat nur dessen Schöpfer zu urteilen. Uns ist die Pflicht auferlegt, es den Mitmenschen so lebenswert und würdig wie nur möglich gestalten zu helfen.

Der Autor ist Universitätsprofessor und Vorstand der Dritten Internen Abteilung des Pflegeheims der Stadt Wien Baumgarten.

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