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Das Boot ist voll

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Von Anfang an war der Schweizer Bundesstaat ein Mekka für politische Flüchtlinge und Asylanten. Schließt die Schweiz ihre Tore für Asylbewerber aus der Dritten Welt?

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Von Anfang an war der Schweizer Bundesstaat ein Mekka für politische Flüchtlinge und Asylanten. Schließt die Schweiz ihre Tore für Asylbewerber aus der Dritten Welt?

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Das Thema Nummer eins der Schweizer Politik in den letzten Monaten war nicht mehr das Waldsterben, sondern das Asylwesen. Ein Berg von 23.000 unerledigten Gesuchen bei ständig wachsendem Zustrom sorgt für xenophobe Stimmung in der Schweizer Bevölkerung.

Knapp fünf Jahre nach Inkrafttreten eines relativ großzügigen Asylgesetzes — in internationalen Fachkreisen gar als der liberalste

Erlaß gewürdigt - steckt die Schweiz inmitten einer leidenschaftlichen flüchtlingspolitischen Diskussion.

Um der Asylantenschwemme Herr zu werden, verschärft man vor allem die Gangart der Aufnahmepraxis.

Im Spannungsfeld zwischen Humanität und Staatsräson, mit der geschichtlichen Verpflichtung als traditioneller Zufluchtsort Vertriebener und der Hypothek, in den Kriegs: ahren 1942 und 1943 mit dem Slogan „Das Boot ist voll" versagt zu haben, verhärten sich die Fronten ständig.

Für die einen — vor allem kirchliche und linke Kreise — ist die praktizierte Asylpolitik viel zu engherzig und schon heute nahezu unmenschlich. Andere möchten kräftig den Riegel stoßen und den Begriff des Flüchtlings so eng wie möglich fassen. Hinzu kommen noch jene Rechtsextremen, die mit asylpolitischen Dauerthemen ihr trübes Süpplein kochen.

Die Behörden setzten vorerst einmal auf die Karte einer verfahrensrechtlichen Straffung der geltenden Normen, um eine ra-

schere Erledigung der anliegenden Gesuche zu ermöglichen.

Unter dem politischen Druck -fremdenfeindliche Bewegungen erzielten vor allem in der französischsprachigen Schweiz sensationelle Wahlerfolge - und dem immer stärkeren Asylantenzustrom (1985 war ein Rekordjahr mit über 10.000 neuen Asylgesuchen) wird aber auch die Praxis immer schärfer, und eigentliche Notstandsmaßnahmen sind nicht mehr weit.

Das Parlament hat nach langem Zögern endlich dem zuständigen Justiz- und Polizeiministerium unter Bundesrätin Elisabeth Kopp, die als erste Frau in der Landesregierung mit der Aufarbeitung dieses brisanten Dossiers wahrlich keine Schonfrist erhielt, zusätzliches Personal gewährt. Dies um eine raschere Erledigung der Gesuche zu ermöglichen und

Leute, die keinen Anspruch auf Asylgewährung haben, weil sie nicht als Opfer staatlicher und politischer Verfolgung gelten können, sondern eher als „Wirtschaftsflüchtlinge" zu betrachten sind, abweisen zu können.

Davon erhofft man sich eine präventive Wirkung, um die Anziehungskraft der Schweiz als Asylland zu dämpfen. Im März wird zudem ein Delegierter für Flüchtlingsfragen sein Amt antreten.

Die Prüfung eines jeden Asylgesuches ist sehr aufwendig und dauert — unter Ausnutzung aller Rechtswege — oft bis zu acht Jahren. Nach einer so langen Wartefrist ist es aber vielfach aus menschlichen Gründen nicht mehr möglich, eine Ablehnung des Gesuches durchzusetzen.

Man spricht deshalb viel und

gern von einer „Vollzugskrise" der an sich genügenden Gesetze und Verordnungen. Dies umso mehr als sich ein Teil der Kantone als Gliedstaaten, die ebenfalls in das Verfahren eingebunden sind, sehr unsolidarisch verhalten und das Florianiprinzip anwenden, wenn es um die Unterbringung von Asylanten geht.

Kristallisationspunkt der Auseinandersetzungen und Diskussionen sind weniger die Türken, sondern vielmehr die Tamilen aus Sri Lanka, die mittels Schlepperorganisationen massenhaft in die Schweiz kommen und bei denen man sich streitet, ob eine Abschiebung in ihr Heimatland zumutbar ist, oder ob man sie dadurch effektiv schweren Gefährdungen aussetzt.

Die Zeichen stehen auf Sturm. Die Gewährung des Kirchenasyls für von der Abschiebung bedrohte Chilenen in Zürich und Genf, die Rückführung von Asylbewerbern aus Zaire unter Anwendung von Gewalt und tätliche Auseinandersetzungen in Flüchtlingslagern von Tamilen erregen die Gemüter in der Schweiz.

Mancherorts ist eine eigentliche fremdenfeindliche Grundstimmung in der Bevölkerung nicht von der Hand zu weisen.

Andererseits zeigt sich gerade dann auch viel Solidarität mit den Flüchtlingen, wie etwa zu Weihnachten, als einem kirchlichen Aufruf über 1000 Familien folgten und mit Asylanten feierten.

Besonnene Kommentatoren sind sich einig, daß keine Rede davon sein kann, daß das „Flüchtlingsboot Schweiz" voll ist und das Asylwesen das Land gefährden könnte.

Daß aber die Asylpolitik eine echte politische Herausforderung ist, ein Prüfstein für das Zusammenwirken verschiedener Behördenstufen und Landesteile und schließlich die Gewinnung und Festigung des Vertrauens der Bevölkerung in die Grundprinzipien helvetischer Asylpolitik und -tra-dition nötig ist, ist ebenso klar. Mit dem Asylantenproblem steht viel auf dem Spiel. Auch für das internationale Ansehen der Schweiz.

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