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Das brasilianische Lumpenproletariat

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Landflucht in die Städte, wo die Massen verelenden: Brasilien leidet unter diesem Problem wie viele Dritte-Welt-Staaten. Doch hinter der Massenverarmung steckt System. Die Kirche kämpft dagegen.

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Landflucht in die Städte, wo die Massen verelenden: Brasilien leidet unter diesem Problem wie viele Dritte-Welt-Staaten. Doch hinter der Massenverarmung steckt System. Die Kirche kämpft dagegen.

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„30 Millionen Brasilianer“, so erklärt eine Ende 1982 in Brasilia veröffentlichte offizielle Statistik, „leben gänzlich jenseits der Wirtschaft“. Somit fristet ein Viertel der Bevölkerung ein Dasein, in dem keinerlei Aussicht auf angemessene Erziehung und Berufschance oder menschen-

würdige Wohnsituation besteht. Sie hat man im „brasilianischen Modell“ vergessen.

Leitmotiv dieses Modells war es, nach dem Militärputsch von 1964 neue Mittelschichten zu etablieren und sukzessive auszuweiten. Uber die Integration dieser neuentstandenen ökonomischen Klasse in das politische System des Landes glaubte man, allmählich zu demokratischen Gepflogenheiten — abgesichert durch breitergestreuten Wohlstand — zurückkehren zu können.

Tatsächlich kam man dem angestrebten Ziel auch näher; Verkaufsstatistiken der Konsumgüterindustrie oder des Baugewerbes etwa illustrieren das ebenso wie die jüngsten politischen Ereignisse des Landes. Doch im scharfen Kontrast zur Entwicklung einer kaufkräftigen Zwischenschicht steht eine andere Wirklichkeit: jene des ärmsten Fünftel des Volkes nämlich, dessen Anteil am Nationaleinkom-

men zwischen den Volkszählungen von 1960 und 1980 von 4 auf 2,8 Prozent zurückging.

Die Verantwortung für diese Entwicklungen, so folgert eine Denkschrift der brasilianischen Bischofskonferenz über die „Problematik von Grund und Boden in der Stadt“, trägt dabei eine „politische Option …, die den berechtigten Interessen der Armen zuwiderläuft“.

Nicht von ungefähr wurde hier die Situation in den Städten als Ausgangspunkt für eine umfassende und äußerst kritische Analyse eines offiziellerseits gerne totgeschwiegenen Teiles der brasilianischen Realität gewählt. Denn die infolge der Landflucht berstenden Großstädte entwik- keln sich rapid zu einem immer unlösbarer erscheinenden sozialen Problem, dem sich die verantwortlichen Politiker durch Ignoranz oder Resignation zu entziehen trachten.

Keine Methode schien bisher verfügbar, um die Woge arbeitsloser oder vertriebener Kleinbau-

ern, die vor der Konzentration des ländlichen Großgrundbesitzes wie eine Bugwelle in die Millionenstädte gespült wurde, einzudämmen. Bereits 70 Prozent der Brasilianer leben heute in der Stadt, 1940 waren es noch 31. Von diesen rund 80 Millionen wohnt etwa die Hälfte in den 13 Millionenstädten des Landes, davon allein 43,5 Prozent in den Regionen Säo Paulo und Rio de Janeiro.

Der Mehrheit dieser Quasi- Zwangsurbanisierten erwartet ein prognostizierbares Schicksal: as rasche Absinken ins Lumpenproletariat. Ihre Wohnstatt wird die Favela, die Barackensiedlung ohne Wasser, Strom und sanitäre Anlagen. Deren Existenz ist allgegenwärtig. In der unmittelbaren Nachbarschaft exklusiver Wohnviertel drängen sich hier kinderreiche Familien in aus Holz und Abfällen auf gebauten Winzighütten.

Das Nebeneinander ist bezeichnend: Die Müllhalden der Wohlstandsgesellschaft werden zum Selbstbedienungsladen für ihre

Randschichten, die praktisch ohne Kaufkraft von dem leben müssen, was sie finden, erbetteln oder stehlen können.

Statistische Angaben staatlicher Stellen, die dem bischöflichen Papier zugrundeliegen, geben einen sprunghaft ansteigenden Anteil der Favela-Bewohner an. Zwischen 1950 und 1980 etwa verdoppelte sich die Einwohnerzahl Rios, während im gleichen Zeitraum der Anteil der Slumbewohner auf das fast Zehnfache an- stieg. Jeder dritte Bewohner der Stadt lebt heute im Dickicht der Elendsquartiere auf einer Fläche, die insgesamt kein Zehntel des städtischen Bodens beansprucht.

Die Großstadt als Brennpunkt der Dauermalaise der untersten Schichten ist zugleich ein Ansatzpunkt der Praxis der Theologie der Befreiung. Tagtäglich in ihrer Pfarre mit dem Massenelend beschäftigte Priester fassen mit dem Begriff der Seelsorge auch ihren Evangelisierungsauftrag weiter — als Engagement auch für die wirtschaftlichen und politischen Seiten des Daseins.

Dabei können sie sich auf die Tradition der lateinamerikanischen Bischofskonferenzen von Medellin (1968) und Puebla (1979) berufen, der zufolge die katholische Kirche zur „Befreiung von allen Knechtschaften“ beizutragen hätte indem sie zur „Stimme derer“ wird, die „keine Stimme haben“.

Weil dabei neben dem Kate chismus auch aktuelle soziale Probleme diskutiert werden müssen, bleibt auch die Frage nach daran politisch Schuldigen nicht aus.

So kritisiert die bischöfliche Denkschrift ungerechte Einkommensverteilung und exzessive Bodenspekulation als wirtschaftliche und politische Ursache der Großstadtmalaise. Denn hinter der Wohnungsknappheit steckt System:

• Immobilienspekulationgehört im heutigen Brasilien zu den flo- rierendsten Branchen. Nach Angaben des Grundbuchamts von Säo Paulo liegt bis zur Hälfte des bebaubaren Bodens zu Spekulationszwecken brach.

• Die im Putschjahr 1964 gegründete staatseigene Nationalbank für Wohnungsbau führt in ihren Jahresberichten traurige Ergebnisse an. 1981 etwa wurden 55 Prozent der für Sozialbauten vorgesehenen Mittel für andere Zwecke umgewidmet.

Als Folge davon steigen die Mietenpreise exorbitant und tragen dazu bei, daß die unteren Mittelschichten zusehends verprole- tarisieren. Siedelt man sich in einer der Favelas auf widerrechtlich besetztem Gebiet an, so läuft man zudem Gefahr, zwangsevakuiert zu werden.

Weil bisher im freien Spiel der Kräfte die Kraftlosen auf der Strecke blieben, dürfe „die Nutzung des Bodens keinesfalls den Launen des Marktes überlassen werden“.

Die Parteinahme für die Unterprivilegierten beschränkt sich nicht auf theoretische Schützenhilfe. Die Aufgabenstellungen der inzwischen über 4000 „christlichen Basisgemeinden“ des Landes sind stets von konkreten Anlässen inspiriert. Gründungsanlässe sind dabei die drängendsten Probleme der jeweiligen Gemeinde: Rechtsbeistand für die Bewohner von Elendsquartieren, eine geforderte Schule oder Kinderkrippe, effizientere Busverbindungen, Unterstützung von Streikenden…

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