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Das Bündnis europäisieren!

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Vier Probleme nagen an der NATO-Allianz:

1. Der Mangel an einer allgemein akzeptierten, glaubwürdigen Strategie: Die Lücke zwischen der offiziellen NATO-Strategie und dessen, was die Offent-lichkeit auch unterstützt, hat sich gefährlich geweitet...

In der heutigen Situation hat die Strategie der flexiblen Reaktion eine tödliche Schwäche: Weder existierende noch projektierte konventionelle Bodenstreitkräfte der NATO reichen für die Eindämmung einer konventionellen Sowjetaggression aus. Deshalb würde diese Strategie eine nukleare Reaktion in einem frühen Stadium erforderlich machen. Aber das strategische Gleichgewicht nimmt der Drohung mit einem Nuklearkrieg viel von ihrer Wirkung — beiderseitiger Selbstmord kann nicht als rationale Wahlmöglichkeit erscheinen. Aber es gibt keine alternative Nuklearstrategie...

2. Mittelstreckenwaffen und Rüstungskontrolle: Die Ankunft der neuen US-Mittelstreckenwaffen in Europa Ende 1983 wurde anlaßgemäß als großer Erfolg begrüßt. Hätten nämlich Demonstrationen und der von den Sowjets ausgeübte Druck die Stationierung verhindert, hätte die UdSSR damit de facto ein Veto über die militärischen Entscheidungen der NATO erreicht.

Aber wenn die NATO den Zweck dieser Waffen nicht klärt, wird der Erfolg kurzlebig bleiben, denn die Grundeinstellung der Europäer zu ihnen gleicht der eines Gastgebers gegenüber einem unerwünschten Gast, den man nicht mehr gut vom Abendessen ausladen kann ...

3.. Ost-West-Beziehungen: Hinter den scharfen Differenzen in der Verteidigungsstrategie und der Rüstungskontrollfrage steckt ein Parallelstreit über die Verhaltensweise der NATO gegenüber der Sowjetunion.

Zu viele Europäer akzeptieren bereits die Karikatur eines Bildes der USA, die von knallfreudigen Cowboys regiert werden, deren kriegerisches Getue die sowjetische Unnachgiebigkeit provoziert hat. Viele Amerikaner wieder betrachten solche europäischen Vorstellungen als naiv und erblik-ken in ihnen sowie in den pazifistischen und neutralistischen Demonstrationen einen Trend in Richtung Beschwichtigung, die zur Unnachgiebigkeit der Sowjets beiträgt.

4.. Beziehungen zur Dritten Welt: Die meisten europäischen Führer wittern eine besondere Gelegenheit zur Herbeiführung von Vorzugsbeziehungen zu Dritte-Welt-Ländern ... Einige hoffen, sich die Gunst der Dritten Welt durch ein demonstratives Absetzen von den USA erringen zu können. Mehr als nur ein paar Amerikaner erblicken darin eine Freifahrt, die durch US-Opfer erkauft wird, oder auch eine Ermutigung des Radikalismus in der Dritten Welt.

Nach einer eingehenden Analyse der sich daraus ergebenden Konsequenzen empfiehlt Kissinger vier konkrete Schritte:

1. Bis 1990 sollte Europa die Hauptverantwortung für konventionelle Bodenstreitkräfte übernehmen. Das liegt sehr wohl innerhalb der Möglichkeiten einer Staatengruppe mit nahezu dem Eineinhalbfachen der Bevölkerung und dem doppelten BruttoSozialprodukt der Sowjetunion. Außerdem müssen die Sowjets ihre Kräfte auf mindestens zwei Fronten verteilen.

2.. Dies erfordert, daß die Planung für die Verteidigung Europas stärker eine europäische Aufgabe wird. Bisher war der alliierte Oberkommandierende der NATO ein Amerikaner. Im neuen Arrangement sollte ein europäischer Offizier diesen Platz einnehmen, wahrscheinlich mit einem US-Stellvertreter ...

3.. Seit Beginn der NATO ist der Generalsekretär, der für das Funktionieren der politischen Bündnismaschinerie zuständig ist, ein Europäer. In der neuen Struktur wäre es sinnvoll, wenn diese Funktion ein Amerikaner einnähme...

4.. Europa sollte die Führung bei jenen Rüstungskontrollverhandlungen übernehmen, die mit auf europäischem Boden stationierten Waffen zu tun haben. Die INF-Verhandlungen mit den Sowjets (über Mittelstreckenraketen) und die MBFR-Verhandlungen (über einen Abbau der konventionellen Streitkräfte) sind bisher von amerikanischen Delegationen geführt worden. Beide Verhandlungsrunden sollten so schnell wie möglich unter einem europäischen Vorsitzenden, einem amerikanischen Stellvertreter und in einer gemischten, aber überwiegend europäischen Verhandlungsdelegation „europäisiert" werden...

Wenn Europa sich zum Aufbau einer vollen konventionellen Verteidigungsmacht entschließt und sich unzweideutig zur jährlichen Stärkung seiner Streitkräfte verpflichtet, könnten die USA die Schlußfolgerung daraus ziehen, daß ihre derzeitigen Bodenstreitkräfte in Europa eine unersetzbare Komponente darstellen.

Wenn aber Europa kraft eigener Entscheidung sich zu dauernder konventioneller Unterlegenheit entschließt, bleibt uns keine andere Möglichkeit, als die US-Truppen in Europa so zu verteilen, daß dies strategisch und politisch einen Sinn hat. Wenn letztlich Atomwaffen die Abschrek-kungsfunktion zu erfüllen haben, wäre ein schrittweiser Abzug eines erheblichen Teils, etwa bis zur Hälfte, unserer gegenwärtigen Bodenstreitkräfte eine logische Konsequenz...

Nicht autorisierte FURCHE-Ubersetzung des Kissinger-Beitrags in „Time" vom 5. März 1984.

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