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Das „Dogma" von der Fehlbarkeit der Kirche

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Was immer von einzelnen Formulierungen von Hans Küng gehalten werden möge, eine sehr positive Wirkung der ganzen Diskussion ist nicht zu übersehen: Das neue und enorme Interesse innerhalb und außerhalb des römischkatholischen Bereichs an vitalen Fragen des Christentums und der Kirche. Symptomatisch dafür ist beispielsweise der Umstand, daß seine heute am meisten diskutierte Publikation „Unfehlbar? - Eine Anfrage" zehn Jahre nach ihrem Erscheinen unverändert in der Reihe „Das aktuelle Ullstein-Buch" wieder herausgebracht wurde.

Küng hatte damit ein Thema aufgegriffen, das längst überfällig geworden war: Nach wie vor, so meint der Autor, werde die Kirche mit Enzykliken, Dekreten und Hirtenbriefen beschenkt, die in Entscheidendem vom Evangelium nicht gedeckt sind, von den meisten Menschen heute nicht eigentlich verstanden und von der Theologie nicht begründet werden können.

Nach wie vor berufe man sich in allen möglichen kleinen und großen Fragen aufden Heiligen Geist.auf übermittelte apostolische Vollmachten und gebärde sich faktisch derart unfehlbar, daß fünf Jahre nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil die Autorität und Glaubwürdigkeit der katholischen Kirche einer Belastungsprobe wie noch selten ausgesetzt werden.

Diese „kritisch-konstruktive theologische Reflexion" des Fragenkomplexes der kirchlichen Lehrautorität hat aber nicht die Einschränkung des Unfehlbarkeitsanspruches zum Gegenstand, sondern den Anspruch schlechthin. Dagegen gäbe es viele Argumente, wenn man - wie der Autor - die oft sehr extensiven Ansprüche (von welcher Instanz immer) mit dem Wortlaut des noch sehr jungen Dogmas (1870) gleichsetzte.

Die Fülle des Materials, das Küng verarbeitet hat, läßt ihn auf seine „Anfrage" selbst eine Antwort nahelegen: daß nämlich diese Ansprüche mit dem neuen Geist des Zweiten Vatikanums, mit seiner neuen Freiheit des Denkens, Diskutierens und Handelns, mit dem neuen Verhältnis auch zur Wahrheit in Widerspruch stehen.

Nach dem eingehenden Studium dieses engagierten und engagierenden Buches scheint aber eine andere Schlußfolgerung viel schlüssiger, eindeutiger und (zunächst zumindest) viel befriedigender: Aus dem sehr strengen, einschränkenden und eindeutigen Dogmen-Wortlaut kann nur der lapidare Umkehrschluß gezogen werden, daß alle anderen Äußerungen des Lehramtes, die vom Papst nicht ex cathedra, sondern von anderen Stellen in allen Fällen erfolgten, prinzipiell fehlbar, d. h. dem Risiko der Irrtumsmöglichkeit grundsätzlich ausgesetzt sind.

Wenn alle im Dogma nicht als unfehlbar bezeichneten Akte grundsätzlich fehlbar sind, ist auch die Frage, die Küng so eingehend und offenbar hoffnungslos behandelt, wer denn vom Papst bis zum „berufenen" Laien „das Lehramt" tatsächlich ausübe, für die gegenständliche Frage belanglos.

Ein Beispiel dafür, daß selbst eine fast 2000jährige Tradition nicht vor Irrtum schützt, ist auch das Schicksal des Satzes: „Außerhalb der Kirche kein Heil!" In einer Publikation des Herder-Verlages versteht es der Karl-Rahner-Schüler Waller Kern, Universitätsprofessor für Fundamentaltheologie in Innsbruck, Verständnis für die eingeengte Welterfahrung der frühen und mittelalterlichen Christenheit zu wek-ken, daß dieser „alte, wenn auch erst nachneutestamentliche Satz ... in unüberbietbarer Schärfe" die Kirche als ausschließliche Heilmöglichkeit betrachtete.

Seit der Aufklärung (erst!) wird dieser Satz aber immer wieder in Frage gestellt, und das nicht nur von Denkern außerhalb der Kirche. Theologen erinnern daran, daß die Heilige Schrift sehr wohl auch die Möglichkeit des Heils der Heiden kenne. Dieses Buch, das auf einen theologischen Fernkurs der Domschule Würzburg zurückgeht, zeigt aber mit aller Schärfe auf, daß diese „alte katholische Lehre" erst durch Aussagen Pius IX. (1854 und 1863) -„damals grundlegend und weittragend neu" - erschüttert wird.

Volle Klarheit verdanken wir erst dem Zweiten Vatikanum in unseren Tagen. Dieses stellte klar, daß Gottes Gnade auch außerhalb der Kirche wirke. All jeneQ Personengruppen, denen das Konzil von Florenz 1442 die Heilsmöglichkeit ausdrücklich abgesprochen hat, wurde - in verschiedenem Frage- und Antworthorizont - vom Zweiten Vatikanischen Konzil 1964/65 die Heilsmöglichkeit ausdrücklich zugesprochen: den Schismatikern und Häretikern, den „getrennten Brüdern", den Juden und den Muslimen und den anderen an Gott Glaubenden oder Göttliches verehrenden Menschen, schließlich sogar denen, die Gott und das Göttliche verkennen und (aus Gewissensgründen) verneinen.

Ist das nicht eine befreiende Feststellung, die erst eigentlich ein wirkliches Gottes- und Menschheitsverständnis möglich macht?

Die grundsätzliche Irrtumsmöglichkeit selbst in sehr wichtigen Fragen auch sehr feierlicher (nicht aber ex cathedra ausgesprochener) päpstlicher Äußerungen zeigt Hans Kramer, Professor für Moraltheologie in Bochum, besonders überzeugend an Hand der zahlreichen widersprüchlichen Aussagen im kirchlichen Lehramt zur Sexualethik:

Die Enzyklika „Casti Connubii" (1930) statuierte betreibend die Empfängnisverhütung den ausschließlichen Gebrauch der Ehe zur Weckung neuen Lebens und bezeichnete jeden anderen als schwere Sünde. Nach dem Zweiten Vatikanum (1965) aber hat die Geschlechtlichkeit neben dem Fortpflanzungszweck einen eigenen, sehr wichtigen, davon unabhängigen partnerschaftlichen Stellenwert.

In Anlehnung daran äußerten sich die deutschen Bischöfe in einem Schreiben 1967 über die Irrtümlichkeit des kirchlichen Lehramtes und die Möglichkeit entgegengesetzter Meinung: Wer glaube, der privaten Meinung sein zu dürfen, die bessere künfige Einsicht der Kirche jetzt schon zu haben, dürfe seinem Gewissen folgen.

Gegen diese Auffassung stellte sich dann unter ausdrücklichem Bezug auf „Casti Connubii" das Rundschreiben „Humanae Vitae" Pauls VI. 1968 wieder auf den Grundsatz der Fortpflanzung als einzigen moralisch erlaubten Zweck der Sexualität.

Wenige Wochen darnach haben die deutschen Bischöfe in der „KöViigstei-ner Erklärung" (1968) mit der Gewissenslehre des Zweiten Vatikanums abermals deutlich widersprochen. Diese Gewissensfreiheit bestätigte neuerdings dann die Würzburger Synode (1975).

Dagegen wieder hat eine Erklärung der Kongregation für die Glaubenslehre zu einigen Fragen der Sexualethik noch in dem selben Jahr wieder den alten, den ersten Zweck der Ehe verfälschenden Standpunkt eingenommen.

Dem haben dann deutsche Kardinäle etwas diplomatischer, die französische Bischofskonferenz ganz offen widersprochen. Es ist ganz klar: Beide Ansichten werden vom Lehramt vertreten, können aber nicht gleichzeitig richtig sein.

Hans Kramer spricht daher von einer „offenen Situation". Die Gewissensentscheidung ist daher maßgeblich: „Die ethisch vielleicht tiefgreifendste Initiative in der Kirchengeschichte der

Neuzeit ist die Betonung der Kompetenz des Gewissens und der Gewissensfreiheit durch das Zweite Vatikanische Konzil."

Dieser Beitrag erschien in einem Sammelband, der aus Vorlesungen an der Katholisch-theologischen Abteilung der Universität Bochum hervorgegangen ist.

Ein anderer Beitrag (Wolfgang Beinert, Professor für Dogmatik und Dogmengeschichte in Regensburg, „Grundströmungen heutiger Theologie") stellt den Entwicklungsprozeß des theologischen Denkens im Geschichtsablauf heraus, der heute wieder deutlich erkannt wird.

Das Ausmaß der Irrtumsmöglichkeit (damit aber auch der Chancen der Wahrheitsannäherung!) nicht nur der Soziallehre, sondern der christlichen Theologie überhaupt läßt die neue Anerkennung einer zweiten Quelle zur Wahrheitsfindung erkennen: neben der „ganzen Erfahrungstradition der großen jüdisch-christlichen Bewegung" auch die „heutigen, neuen menschlichen Erfahrungen von Christen und Nicht(!)christen."

Und wie der niederländische Konzilstheologe Edward Schillebeeckx O. P. weiter präzisiert: Bei diesen leisten auch die Humanwissenschaften, sogar die Naturwissenschaften, einen eigenen Beitrag, denn sie sind mit-bestimmend für unsere konkreten, modernen Erfahrungen.

Die Bedeutung der Humanwissenschaften (in einer Phase, in welcher sie begonnen haben, den Stellenwert des Religiösen wieder zu entdecken!) für die moderne Theologie ist ebenfalls ein neuer Zug, der nicht übersehen werden kann. Was die Schrift und die Tradition über den Menschen und seine Bestimmung aussagen, muß und kann wohl gar nicht anders als im Lichte dessen verstanden werden, was der Mensch immer mehr und mehr oder zumindest jeweils über sich selbst weiß.

Die damit notwendigerweise verbundene Irrtumsmöglichkeit darf uns nicht erschrecken. Sie verpflichtet - wie in allen Lebensbereichen - dazu, Vertrauen in Autorität mit einem sehr kritischen Geist zu verbinden. Das christlich-realistische Menschenbild vom erbsündigen, dem Irrtum und sogar der Willensschwäche ausgesetzten Menschen gilt grundsätzlich auch für die in der Kirche, wo immer, Tätigen.

UNFEHLBAR? - EINE ANFRAGE. Von Hans Küng, Ullstein-Verlag, Frankfurt/M.-Berlin Wien 1980, 204 S., öS 45,20.

AUSSERHALB DER KIRCHE KEIN HEIL? Von Waller Kern, Herder-Verlag, Freiburg-Basel-Wien 1979. 8 S.. öS 76,40.

TENDENZEN DER KATHOLISCHEN THEOLOGIE NACH DEM ZWEITEN VATIKANISCHEN KONZIL. Von Gisbert Kaufmann (Hrss.)u. a., Kösel-Verlag, München 1979. 213S., öS 232,40.

MENSCHLICHE ERFAHRUNG UND GLAUBE AN JESUS CHRISTUS - Eine Rechenschaft. Von Edward Schillebeeckx, Verlag Herder. Freiburg-Basel-Wien 1979, 79 S., öS 76,40.

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