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Das Dorf als Imitationsstadt?

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Das Dorf der Gegenwart sieht sich einem Wandel ausgesetzt, dessen Ursachen vielfältig und dessen Folgen schwerwiegend sind. Welche Chancen hat das Dorf in der Zukunft?

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Das Dorf der Gegenwart sieht sich einem Wandel ausgesetzt, dessen Ursachen vielfältig und dessen Folgen schwerwiegend sind. Welche Chancen hat das Dorf in der Zukunft?

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Das ursprünglich am Ziel der Selbstversorgung orientierte soziale Gebilde „Dorf" ist in den letzten Jahrzehnten einer weiteren Struktürdifferenzierung unterlegen. Durch ständig verbesserte Verkehrserschließung wurde eine Verknüpfung mit größeren Räumen und einem erweiterten wirtschaftlichen Spektrum möglich. Handel, Gewerbe und Dienstleistungen wurden in das dörfliche Leben integriert.

Dies hat seinen Niederschlag aber nicht nur im Wandel der ländlichen Bauformen und der Flurstruktur gefunden, ist nicht nur am Wandel der Bewirtschaftungsform und der Technologie abzulesen, hat nicht nur zum Entstehen eines Systems zentraler Orte mit unterschiedlicher Gewichtigkeit geführt, sondern hat vor allem einen deutlichen Wandel der Lebenseinstellung der Bewohner und eine stark veränderte, ja bisweilen in Auflösung begriffene Wertestruktur ausgelöst.

Die Merkmale dieses sozialen Wandels sind:

• Die erhöhte räumliche Mobilität führte zur Auflösung der strengen funktionellen Abgrenzung von der Stadt, es entstand ein verfließendes Kontinuum.

• Die traditionellen dörflichen Lebensweisen haben ihren Sinn und ihre Attraktivität für die Bewohner verloren. Der regelmäßi-

ge Stadtkontakt, der Einfluß der Massenmedien, das Pendeln zum Arbeitsplatz und zu den zentralen Einrichtungen vermittelt eine vermeintlich bessere Lebensform. Es entsteht aber ein unbegründeter Minderwertigkeitskomplex der Landbewohner gegenüber den Städtern.

• Die Wirtschafts- und Beschäftigungsstruktur tendiert immer mehr zum tertiären Sektor: So ist etwa in der Planungsregion Mistelbach (NO) die Agrarquote von 54 Prozent im Jahr 1961 auf 22 Prozent im Jahr 1981 gefallen.

In dieser Region war zwischen 1961 und 1981 ein Bevölkerungsrückgang von 17 Prozent zu verzeichnen (von 89.274 auf 74.497 Einwohner). Gleichzeitig sind dort von 1961 bis 1979 etwa 11.000 Menschen abgewandert; es gibt rund 4.300 Auspendler und mit rund 34.000 Berufstätigen in der Region um fast 11.000 weniger als noch 1961.

# Die strukturelle und soziale Mobilität sind stark ausgeprägt. Die Zahl der insgesamt aus der Landwirtschaft Abgewanderten ist im Vergleichzeitraum bereits größer als die Zahl der noch Verbliebenen.

Weitere Merkmale des Wandels lassen sich ablesen an der Zerstörung des Ortbildes, am Verlust des Heimatgefühls (nach Gemeindezusammenlegungen), am Rückgang der Spiritualität, an den Integrationsproblemen gegenüber Fremden und an der deutlichen Frustration über die immer mehr erkannte Unmög-

lichkeit, städtische Werte reibungsfrei ins Dorf zu übertragen.

Nun ist aber der Wandel des Dorfes nicht nur von desintegra-tiven Impulsen getragen. Es bestehen zahlreiche positive Ansatzpunkte, eine Bereinigung der Folgeerscheinungen des Wandels zu versuchen:

Die Uberschaubarkeit und Gestaltbarkeit des Lebensraumes Dorf bietet im Zusammenwirken mit dem stärker als in der Stadt ausgeprägten Gefühl für die Natur und die Mitmenschen die Chance eines sinnerfüllten Lebens.

Die Besinnung auf die immer noch vorhandenen Werte bietet die Chance einer Abkehr vom städtischen Diktat hin zur Eigenständigkeit der Lebensführung.

Die stärkere Ortsverbundenheit politischer Entscheidungen und ihrer Träger bietet gemeinsam mit erhöhter Freizügigkeit der Eigeninitiative die Chance, neue Formen lokaler Zusammenarbeit zu entwickeln (Bürgerinitiativen, Bewohnerräte, „Dorfpalaver") und zu einer umfassenden Dorferneuerimg zu finden. Das ausgeprägte System sozialer Kontrollen, Sitten und Bräuche aber dient als Korrektiv gegenüber extremen Standpunkten.

Die Chance, Demokratie und Kultur an der Basis zu erleben und mitzugestalten, stellt gerade für eine verstärkt an ökologischen Gesichtspunkten orientierte Jugend einen Beitrag dar, Sinn und Aufgabe darin zu sehen, Dorfbewohner zu sein.

Diese und viele andere positive Impulse sollten Motivation und Ansporn sein, das Wesen des Dorfes heute zu überdenken, seine Erneuerung und Gestaltung zu versuchen — undso dem Dorf eine Zukunft als Lebensraum zu sichern.

Der Autor ist Raumplaner und Sekretär des Karl Kummer-Institutes für Sozialpolitik und Sozialreform in Wien; ein Arbeitskreis des Institutes beschäftigt sich derzeit mit möglichen Strategien zur Abwehr weiterer negativer Folgen des sozialen Wandels im Dorf.

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