Dieser FURCHE-Text wurde automatisiert gescannt und aufbereitet. Der Inhalt ist von uns digital noch nicht redigiert. Verzeihen Sie etwaige Fehler - wir arbeiten daran.
Das dürre Bein - oder: Ein Unglück kommt selten allein
Es war gerade am Jahrestag der großen Schlägerei beim Adlerwirt, nämlich am Bonifaziustag, an welchem die Weiber nach der Messe ihre Kaffeebohnen an die Sonne zu stellen pflegen, damit sie einen guten Geruch bekommen; auch war der Tag just wieder so herbstmäßig unfreundlich und kalt wie im letzten Jahre, so daß die Vögel ihre neugelernten Frühlingslieder gar nicht zu singen wagten.
Ein deutlicher Beweis dafür, wie sehr die Naturerscheinungen auf den Menschengeist wirken, wie sie das Tun und Lassen noch unverkün- stelter Naturmenschen bestimmen, ist der Umstand, daß heute mehrere Bauern in den das Dorf wie ein grüner Kranz umschließenden Tannenwald gingen, um für den nächsten Winter das Brennholz zu fällen; also eine Arbeit zu verrichten, die sonst immer für den Herbst aufgespart wurde.
Im Dorfe war es so still, daß man die Schläge der Holzhacker im Walde draußen hätte zählen können. Das Geschrei der Hähne und das Gegacker der Hennen war verstummt, die Ställe waren schon geschlossen, und wer sich nicht im Wald oder sonst irgendwo befand, war zur Siebenuhrmesse gegangen.
Ein großer Mann in kurzen Lederhosen und Strümpfen, denen man es noch ganz gut ansah, daß sie weiß sein sollten, schritt langsam zum Dorfe hinaus. Es war There- sen-Tonis-Sepps-Leonhards-Buben Bub.
Zwar war er kein Bub mehr; sein erstes Weib ruhte schon draußen auf dem Friedhof, und Greth, sein jetziges Hauskreuz, hatte ihm eben gesagt, daß er „ein käsefauler Mensch sei, der da müßig im Dorf herumstolpere, während sonst alles im Schweiße des Angesichtes Brot esse“.
Bub bezeichnet man häufig den einzigen Sohn, der durch keinen Namen von einem Bruder unterschieden werden muß, also den alleinigen Erben, den Wohlhabenden.
Als Theresen-Tonis-Sepps-Leon- hards-Buben Bub durch den Wald neben dem Dorfe schritt und an gar nichts dachte, fiel hart neben ihm eine tödlich-getroffene Tanne laut schreiend und krachend zu Boden.
Theresen-Tonis-Sepps-Leonhards-Buben Bub - den wir der Kürze wegen von jetzt an Bub nennen wollen - lief, so schnell er konnte und schneller als es von einem alleinigen Erben des schönsten Anwesens im Dorf zu erwarten war, denn er fürchtete, erschlagen zu werden, und beschloß daher zu fliehen. Ja, dieses Gefühl der Furcht war bei diesem sonst gefühllosen Bauern so groß, daß er die zu seiner Rechten sich auftuenden Abgründe gar nicht mehr beachtete - und leider auch die vielen Steine des Anstoßes achtete er nicht, die vor ihm auf dem Wege lagen.
Obacht auf den Tritt, daß stolperst nit, ist eine Bauernregel, die jeder Vater seinem Sohne einschärft. Auch der Bub hatte sie oft und oft gehört, aber wie noch so manches andere längst wieder vergessen; er gab nicht Obacht, daher stolperte er.
Ja, er stolperte und fiel über den Weg hinaus und ihm war so weh ums rechte Knie herum, daß er gar nicht mehr aufstehen konnte. Nur noch schreien konnte er, und zwar lauter als das Waldbächlein rauschte und lauter als die Holzsägen rasselten.
Die Vögel flogen erschrocken hinweg; die nächsten Arbeiter eilten erschrocken herzu, zogen den Verunglückten herauf und machten schnell eine Tragbahre aus Tann
ästen, um den kein Mensch wußte wie schwer Verwundeten recht schnell heim unter die zärtliche Pflege seines Weibes zu bringen. -
Ereignisse gleichen oft Schneeballen. An und für sich sind sie nicht gefährlich, aber auf dem Wege vom Wald ins Dorf können sie zur Lawine werden. So war es auch diesmal. Wie unbedeutend auch die Verletzung war, es hieß im Dorfe gleich: „Theresen u.s.w. Bub hat ein Bein gebrochen.“ Und der Dorfarzt war bei weitem nicht der Einzige, der lächelnd die möglichen Folgen dieses „interessanten Falles“ berechnete. Der Seelenhirt des Ortes aber dachte sogleich an des Unglücklichen unglückliches Weib und er eilte, um ihm selbst diesen gallen- bittern Tropfen im Weine der Religion beizubringen.
Vor der Haustür hielt er eine wunderschöne Vorrede; dann in die Stube tretend, sagte er: „Also fasse dich und höre den Willen Gottes: dein Mann hat ein Bein gebrochen.“ „Nicht war, es war das Rechte?“ fragte das gottergebene Weib.
„Ja, ich glaube“, sagte der Pfarrer.
„Das hab ich gedacht.“
„Warum?“
„Nun seht, der Klotz lag den ganzen Winter beim Ofen, und immer auf einer Seite, immer mit dem rechten Bein hart am heißen Stein, da mußte der Fuß zu dürr werden und brechen bei nächster Gelegenheit. Da hat er’s nun. Man muß sich halt auf der Welt zu drehen und zu wenden wissen ...“
(Dieser Text wurde aus dem beim Kommissionsverlag H. Lingenhöle & Co., Bregenz, 1970 erschienenen „Briefwechsel Franz Michael Felder - Kaspar Moosbrugger“ entnommen. Die sieben Bände umfassende Gesamtausgabe der Werke Felders wird vom Franz- Michael-Felder-Verein, Vorarlberger Literarische Gesellschaft, herausgegeben.)
Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.
In Kürze startet hier der FURCHE-Navigator.
Steigen Sie ein in die Diskurse der Vergangenheit und entdecken Sie das Wesentliche für die Gegenwart. Zu jedem Artikel finden Sie weitere Beiträge, die den Blickwinkel inhaltlich erweitern und historisch vertiefen. Dafür digitalisieren wir die FURCHE zurück bis zum Gründungsjahr 1945 - wir beginnen mit dem gesamten Content der letzten 20 Jahre Entdecken Sie hier in Kürze Texte von FURCHE-Autorinnen und -Autoren wie Friedrich Heer, Thomas Bernhard, Hilde Spiel, Kardinal König, Hubert Feichtlbauer, Elfriede Jelinek oder Josef Hader!