6910923-1981_08_22.jpg
Digital In Arbeit

Das dürre Bein - oder: Ein Unglück kommt selten allein

Werbung
Werbung
Werbung

Es war gerade am Jahrestag der großen Schlägerei beim Adlerwirt, nämlich am Bonifaziustag, an wel­chem die Weiber nach der Messe ihre Kaffeebohnen an die Sonne zu stellen pflegen, damit sie einen gu­ten Geruch bekommen; auch war der Tag just wieder so herbstmäßig unfreundlich und kalt wie im letzten Jahre, so daß die Vögel ihre neuge­lernten Frühlingslieder gar nicht zu singen wagten.

Ein deutlicher Beweis dafür, wie sehr die Naturerscheinungen auf den Menschengeist wirken, wie sie das Tun und Lassen noch unverkün- stelter Naturmenschen bestimmen, ist der Umstand, daß heute mehrere Bauern in den das Dorf wie ein grü­ner Kranz umschließenden Tannen­wald gingen, um für den nächsten Winter das Brennholz zu fällen; also eine Arbeit zu verrichten, die sonst immer für den Herbst aufgespart wurde.

Im Dorfe war es so still, daß man die Schläge der Holzhacker im Walde draußen hätte zählen kön­nen. Das Geschrei der Hähne und das Gegacker der Hennen war ver­stummt, die Ställe waren schon ge­schlossen, und wer sich nicht im Wald oder sonst irgendwo befand, war zur Siebenuhrmesse gegangen.

Ein großer Mann in kurzen Le­derhosen und Strümpfen, denen man es noch ganz gut ansah, daß sie weiß sein sollten, schritt langsam zum Dorfe hinaus. Es war There- sen-Tonis-Sepps-Leonhards-Buben Bub.

Zwar war er kein Bub mehr; sein erstes Weib ruhte schon draußen auf dem Friedhof, und Greth, sein jetziges Hauskreuz, hatte ihm eben gesagt, daß er „ein käsefauler Mensch sei, der da müßig im Dorf herumstolpere, während sonst alles im Schweiße des Angesichtes Brot esse“.

Bub bezeichnet man häufig den einzigen Sohn, der durch keinen Namen von einem Bruder unter­schieden werden muß, also den al­leinigen Erben, den Wohlhabenden.

Als Theresen-Tonis-Sepps-Leon- hards-Buben Bub durch den Wald neben dem Dorfe schritt und an gar nichts dachte, fiel hart neben ihm eine tödlich-getroffene Tanne laut schreiend und krachend zu Boden.

Theresen-Tonis-Sepps-Leon­hards-Buben Bub - den wir der Kür­ze wegen von jetzt an Bub nennen wollen - lief, so schnell er konnte und schneller als es von einem allei­nigen Erben des schönsten Anwe­sens im Dorf zu erwarten war, denn er fürchtete, erschlagen zu werden, und beschloß daher zu fliehen. Ja, dieses Gefühl der Furcht war bei diesem sonst gefühllosen Bauern so groß, daß er die zu seiner Rechten sich auftuenden Abgründe gar nicht mehr beachtete - und leider auch die vielen Steine des Anstoßes achtete er nicht, die vor ihm auf dem Wege lagen.

Obacht auf den Tritt, daß stol­perst nit, ist eine Bauernregel, die je­der Vater seinem Sohne einschärft. Auch der Bub hatte sie oft und oft gehört, aber wie noch so manches andere längst wieder vergessen; er gab nicht Obacht, daher stolperte er.

Ja, er stolperte und fiel über den Weg hinaus und ihm war so weh ums rechte Knie herum, daß er gar nicht mehr aufstehen konnte. Nur noch schreien konnte er, und zwar lauter als das Waldbächlein rausch­te und lauter als die Holzsägen rasselten.

Die Vögel flogen erschrocken hinweg; die nächsten Arbeiter eilten erschrocken herzu, zogen den Ver­unglückten herauf und machten schnell eine Tragbahre aus Tann­

ästen, um den kein Mensch wußte wie schwer Verwundeten recht schnell heim unter die zärtliche Pflege seines Weibes zu bringen. -

Ereignisse gleichen oft Schneebal­len. An und für sich sind sie nicht ge­fährlich, aber auf dem Wege vom Wald ins Dorf können sie zur La­wine werden. So war es auch dies­mal. Wie unbedeutend auch die Verletzung war, es hieß im Dorfe gleich: „Theresen u.s.w. Bub hat ein Bein gebrochen.“ Und der Dorfarzt war bei weitem nicht der Einzige, der lächelnd die möglichen Folgen dieses „interessanten Falles“ be­rechnete. Der Seelenhirt des Ortes aber dachte sogleich an des Un­glücklichen unglückliches Weib und er eilte, um ihm selbst diesen gallen- bittern Tropfen im Weine der Reli­gion beizubringen.

Vor der Haustür hielt er eine wunderschöne Vorrede; dann in die Stube tretend, sagte er: „Also fasse dich und höre den Willen Gottes: dein Mann hat ein Bein gebrochen.“ „Nicht war, es war das Rechte?“ fragte das gottergebene Weib.

„Ja, ich glaube“, sagte der Pfar­rer.

„Das hab ich gedacht.“

„Warum?“

„Nun seht, der Klotz lag den ganzen Winter beim Ofen, und im­mer auf einer Seite, immer mit dem rechten Bein hart am heißen Stein, da mußte der Fuß zu dürr werden und brechen bei nächster Gelegen­heit. Da hat er’s nun. Man muß sich halt auf der Welt zu drehen und zu wenden wissen ...“

(Dieser Text wurde aus dem beim Kommissi­onsverlag H. Lingenhöle & Co., Bregenz, 1970 erschienenen „Briefwechsel Franz Mi­chael Felder - Kaspar Moosbrugger“ entnom­men. Die sieben Bände umfassende Gesamt­ausgabe der Werke Felders wird vom Franz- Michael-Felder-Verein, Vorarlberger Litera­rische Gesellschaft, herausgegeben.)

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung