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Das eigentliche Problem

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Es gibt noch eine deutsche Nation. Die letzte Klammer freilich, die diese Nation zusammenhält, hat das liebenswürdige gemeinsame Gesicht von Michail Gorbatschow, Ronald Reagan, Margaret Thatcher und Francois Mitterrand.

Das hat die Bundesrepublik ausdrücklich akzeptiert, zum Beispiel in der gemeinsamen Resolution des Bundestages von 1972 — eben weil der „Viermächte-Status” etwas ist, was noch einen gewissen Zusammenhalt gewährt und was Berlin beschützt.

Übrigens: Wieso gibt es eigentlich noch westliche Truppen in Berlin? Das sollte am 8. Mai wieder einmal gesagt werden.

Wenn ich Ronald Reagan wäre, hätte ich Gorbatschow vorgeschlagen: Feiern wir gemeinsam den 8. Mai und treffen wir uns in Torgau da, wo sich die sowjetischen und amerikanischen Truppen im April 1945 begegnet waren.

Torgau liegt nämlich mitten in der DDR. Und da würde dann auch klar werden, daß Erfurt und Leipzig von amerikanischen Truppen besetzt worden waren. Sie mußten sich damals allerdings wieder zurückziehen, weil im September 1944 in London beschlossen worden war, die Trennungslinie westlicher verlaufen zu lassen als da, wo die Amerikaner letztlich hingekommen waren. Als Gegenleistung wurde das von Sowjettruppen eroberte Berlin von den Alliierten gemeinsam besetzt und blieb das bis heute.

Was nun das Problem 8. Mai anbetrifft: Der 8. Mai ist für die Deutschen eine Katastrophe (die deutsche Nation ist zerstört, Deutschland zerstückelt worden) und Befreiung zugleich (Ende des nationalsozialistischen Regimes).

Für die Bundesrepublik ist dieser 8. Mai aber auch noch etwas anderes: Er ist auch die Erinnerung daran, daß nicht ganz Deutschland befreit ist, daß es 17 Millionen Deutsche gibt, die nicht die Freiheit wie im Westen genießen.

Das muß zum Beispiel in Frankreich immer wieder gesagt werden, wenn man dafür eintritt, den 8. Mai gemeinsam zu feiern — was im übrigen ja möglich ist. Denn der Sieg von 1945 ist über

Regime davongetragen worden, nicht über Nationen, nicht über Völker, wie es in der Präambel der französischen Verfassung von 1946 ja auch ausdrücklich heißt.

Der Nationalsozialismus hatte Hunderttausende von Deutschen in Konzentrationslager gebracht, bevor der erste Ausländer in die Mühlen des hitlerischen Terror-Regimes gerieten. Und es hat ja leider auch Tausende von Franzosen gegeben, die mit der nationalsozialistischen Besatzungsmacht zusammengearbeitet haben. Deshalb kann man auch gemeinsam feiern — vorausgesetzt man sagt, daß es noch 17 Millionen Deutsche gibt, die nicht die Freiheit haben.

Aber nur von Deutschen soll die Rede sein, nicht von anderen Grenzen oder Gebieten. Hier ist in letzter Zeit in der Bundesrepublik ein Streit entbrannt, der für die Europapolitik schwere Konsequenzen haben könnte, wenn Bundeskanzler Helmut Kohl nicht ganz hart spricht.

Es geht um die Schlesien-Parolen, es geht um das Deutschland von 1937. Das Deutschland von 1937 aber gibt es nicht mehr.

Gewiß, es gab die Vertreibung, die Millionen von Menschen das Leben gekostet hat und völlig ungerecht war. Aber das ist Vergangenheit, die Vertriebenen sind eingegliedert worden. Das ist ein großes Verdienst der Bundesrepublik zur Erhaltung des Friedens in der Nachkriegszeit.

Heute aber gilt der Vertrag von Warschau, in dem die westliche Grenze der Volksrepublik Polen anerkannt worden ist.

Aber, hört man gewisse Stimmen in der BRD, würde ein vereinigtes Deutschland das noch anerkennen, was die Bundesrepublik anerkannt hat? Zu diesen Stimmen kann ich als Franzose nur sagen: Wenn sie so sprechen, machen sie Europa kaputt. Denn dann fragen etliche Franzosen, Italiener oder Engländer: Wenn ihr kein endgültiges Deutschland seid, dessen Unterschrift gilt, seid ihr dann noch ein Partnermitglied in Europa?

Es gibt kein Problem der Westgrenzen Polens, außer ein künstlich geschaffenes, zerstörerisches Problem. Aber es gibt ein Problem, wer deutsch ist und wer die Deutschen sind.

Die 17 Millionen Deutschen in der DDR jedenfalls sind ein echtes Problem, und Bundeskanzler Kohl und Bundespräsident Richard von Weizsäcker sprechen das auch frei und nüchtern aus. Das heißt nicht, daß es morgen eine staatliche Wiedervereinigung geben muß, daß es aber völlig natürlich ist, wenn 60 Millionen Deutsche im Westen sich nicht damit begnügen, frei zu sein, sondern auch an die Freiheit von jenen denken, denen die Freiheit vorenthalten ist.

Nichtautorisierter Auszug aus dem Vortrag „Frankreich, die Bundesrepublik und Europa” (Tonbandabschrift), den der französische Politologe und Deutschland-Experte Alfred Grosser Anfang März vor dem „Club Pro Wien” im Wiener Palais Palffy hielt

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