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Das Eigentor der CDU

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In doppeltem Sinne ist die schwere Niederlage, die sich die CDU/CSU und ihr Kanzlerkandidat Rainer Barzel am 27. April mit der Ablehnung des konstruktiven Mißtrauensvotums gegen Brandt im Bundestag geholt haben, als Eigentor zu bezeichnen. Erstens haben sie diese Niederlage völlig mutwillig riskiert, anscheinend ohne sich über das Risiko klargeworden zu sein, zweitens spricht vieles dafür, daß Barzel einer Intrige aus den eigenen Reihen erlegen ist.

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In doppeltem Sinne ist die schwere Niederlage, die sich die CDU/CSU und ihr Kanzlerkandidat Rainer Barzel am 27. April mit der Ablehnung des konstruktiven Mißtrauensvotums gegen Brandt im Bundestag geholt haben, als Eigentor zu bezeichnen. Erstens haben sie diese Niederlage völlig mutwillig riskiert, anscheinend ohne sich über das Risiko klargeworden zu sein, zweitens spricht vieles dafür, daß Barzel einer Intrige aus den eigenen Reihen erlegen ist.

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Ihm sind zwar die erhofften Stimmen aus dem Lager der FDP zugefallen, aber zwei Abgeordnete der CDU, entweder aus persönlichem Haß gegen den Parteiführer oder aus Sympathie für die Linke, haben Stimmenthaltung geübt bzw. mit Nein gestimmt. Wenn nicht eines Tages der oder die Täter ein Geständnis ablegen (wie einst jener brave Mann der Bayern-Partei, der 1949 entgegen dem Auftrag seiner Partei Adenauer zu der 249. Stimme verhalf), dann wird man nie erfahren, wer wirklich für den Ausgang der vielleicht geschichtlich entscheidenden Abstimmung im deutschen Bundestag verantwortlich war.

Sowohl die Reden der Koalitionspolitiker vor der Abstimmung als auch ihre Äußerungen im Gespräch mit Journalisten in den Wandelgängen des Parlaments zeigten, daß die SPD von ihrer eigenen Niederlage beinahe überzeugt war, und der Jubel nach dem Bekanntwerden des Resultats bestätigte, daß es sich um einen nicht mehr erhofften Sieg handelte. Das spricht dafür, daß mindestens die beiden FDP-Abgeordneten Kienbaum und Kühlmann-Stumm, die offen erklärt hatten, sie würden für Barzel stimmen, wahrscheinlich aber auch der Abgeordnete Helms, der am Tage der Wahl in Württemberg-Baden aus der FDP ausgetreten war, für das Mißtrauensvotum gestimmt haben. Anderseits fürchtete man in der Union und vor allem unter ihren kritischer gestimmten Freunden seit langem, daß einige offiziell der Opposition zugehörende Abgeordnete für die Ratifizierung der Ostverträge stimmen würden. Der DGB-Vorsitzende Vetter hat sich schon vor der Stuttgarter Entscheidung gerühmt, daß er etwa zwei Dutzend CDU-Abgeordnete, die in seinen Gewerkschaften organisiert sind, zum Rapport nach Düsseldorf bestellt und auf ein Ja zu den Verträgen verpflichtet habe. Drohend fügte er hinzu, er hoffe, daß dieses Ja-Woft auf dem Weg von Düsseldorf nach Bonn nicht verlorengehen werde.

' Unter diesen Umständen war es töricht von der CDU/CSU, das Risiko des Mißtrauensvotums einzugehen, für das sie aus eigener Kraft nicht die nötigen Stimmen aufbrachte. Die Hoffnung, daß drei FDP-Mannen — zu denen der Abg. Zogl als ehemaliger FDP-Politiker dauernd die Verbindung aufrecht erhielt — für Barzel stimmen würden, und die Ungewißheit, ob sie nicht doch noch im letzten Augenblick kneifen würden, war für die unzuverlässigen Kantonisten in der eigenen Partei eine große Versuchung.

Auf jeden Fall aber hat sich' die CDU/CSU auf ein Wagnis eingelassen, das man als puren Leichtsinn bezeichnen muß. Schließlich wäre Barzel, wenn er gesiegt hätte, vor einer kaum lösbaren Aufgabe gestanden, denn auch er hätte mit einer hauchdünnen Mehrheit regieren müssen und bestenfalls noch ein Dutzend FDP-Leute gegen den Zuschlag von Ministerposten herüberziehen können. Die schwierige Finanzlage, in die Brandt und Schiller die Bundesrepublik gebracht haben, die Hypothek der Ostverträge, mit denen man zurechtkommen muß — das alles hätte Barzel das Regieren schwer gemacht und die Aussichten der CDU/CSU für Neuwahlen nicht verbessert.

Es gab unter den Gründen, die man für den halsbrecherischen Entschluß anführte, einen einzigen, der akzeptabel war: Man könne es Brandt nicht überlassen, den Zeitpunkt für Neuwahlen zu bestimmen, und man könne überhaupt nicht länger zuwarten, da „Volksfront“-Tendenzen, die sich schon im südwestdeutschen Wahlkampf deutlich abzeichneten, zu gefährlich wären. Aber diese „Gefahr“ ist nach der Niederlage der Opposition am 27. April noch größer geworden; zu dem Nimbus Brandts als Friedenskanzler kommt noch der des Siegers in der parlamentarischen Schlacht.

Gab es für die Union eine Alternative? Sie hatte am 23. April in Baden-Württemberg einen eindeutigen Sieg errungen, obwohl der Wahlkampf gegen sie mit einem gewaltigen Aufwand an Regierungsgeld und Demagogie, weithin auch durch Störaktionen geführt worden war. Brandt befand sich in bedrängter Lage, da es fraglich war, ob er die Ostverträge über die Bühne bringen würde. Und vielleicht wäre er bereit gewesen, der Opposition eine befriedigende Präambel zu den Verträgen zuzugestehen, selbst auf die Gefahr hin, daß ihm Moskau dann Schwierigkeiten macht. Und möglicherweise hätte er sogar der CDU/CSU das Haupt des Außenministers Scheel geopfert.

Das wäre nicht nur, in Anbetracht der Rolle Scheels in der Frage der Geheimprotokolle, ein materieller Erfolg — es wäre auch ein moralischer Sieg gewesen. Ihn hat die Union verspielt. Dazu hat sie Barzels Prestige schwer geschädigt und sich um den ganzen moralischen Ertrag ihres Sieges vom 23. April gebracht.

Die Frage, die man überall stellt, gilt Strauß: Warum hat dieser sonst so instinktsichere Politiker, der noch wenige Stunden vor der Abstimmung im Bundestag Schiller rhetorisch geradezu k. o. geschlagen hatte, dieses gefährliche Spiel nicht verhindert?

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