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Das eine Volk Gottes

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Unter diesem Titel fand in Luzern Ende September ein Symposion statt, das von der theologischen Fakultät Luzern gemeinsam mit dem Institut für jüdisch-christliche Studien, Seton Hall University, South Orange, New Jersey, USA, veranstaltet worden war. Initiatoren und Leiter der Tagung waren Prälat DDr. h. c. Johannes Oesterreicher, Leiter des oben genannten Institutes, und Dr. Clemens Thoma SVD, Professor für Bibelwissenschaft und Judaistik an der Theologischen Fakultät Luzern. Die Tagung stand unter dem Patronat des Bischofs von Basel, Prof. Dr. Anton Hänggi.

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Unter diesem Titel fand in Luzern Ende September ein Symposion statt, das von der theologischen Fakultät Luzern gemeinsam mit dem Institut für jüdisch-christliche Studien, Seton Hall University, South Orange, New Jersey, USA, veranstaltet worden war. Initiatoren und Leiter der Tagung waren Prälat DDr. h. c. Johannes Oesterreicher, Leiter des oben genannten Institutes, und Dr. Clemens Thoma SVD, Professor für Bibelwissenschaft und Judaistik an der Theologischen Fakultät Luzern. Die Tagung stand unter dem Patronat des Bischofs von Basel, Prof. Dr. Anton Hänggi.

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Obwohl in den vergangenen Jahren so manche Vorurteile den Juden gegenüber abgebaut und so manche theologische Neuansätze versucht wurden, blieb die theologisch zentrale Frage nach dem Volk Gottes bis jetzt ungeklärt. Gibt es zwei Völker, das alte und das neue Gottesvolk, oder gibt es letztlich nur das eine, Juden und Christen in sich versammelnde „Israel Gottes“?

Mit diesem Problem beschäftigten sich in diesen Tagen Bibelwissenschaftler, Kirchenhistoriker und Dogmatiker der verschiedensten Nationen. Daß sich unter den Referenten nur katholische Gelehrte befanden, darf nicht als „Getto-Geist“ gewertet werden. Zuviel Universalität kann auch schädlich sein, wie es sich bei mehreren christlich-jüdischen Tagungen der letzten Vergangenheit gezeigt hatte. Zu viele divergierende katholische und evangelische Kirchenbegriffe kamen dabei ins Spiel. Dadurch wurde oft an Gemeinsamkeiten und Widersprüchen vorbeigeredet und die Problematik verflacht. Erst wenn im katholischen Bereich einigermaßen Klarheit herrscht, können Katholiken mit ihren Brüdern aus anderen Gemeinschaften vollverantwortlich und zielführend sprechen.

Noch vor seinem Beginn hatte das Symposion in Presse und Rundfunk ein stärkeres Echo gefunden, als es sonst bei wissenschaftlichen Tagungen der Fall ist. In seiner Begrüßungsansprache erklärte Regierungsrat Dr. Walter Gut, Erziehungsdirektor des Kantons Luzern, daß dieses wohlwollende Interesse als Ausdruck des Vertrauens zu deuten sei, das die Schweiz in diese Tagung setze. Dem Thema „Judentum und Kirche“ käme ja nicht bloß theologische, sondern auch politische, soziologische und erzieherische Bedeutung zu. In einer von Haß und Terror bedrohten Welt müssen Theologie und Politik im Dienst am Frieden zusammenwirken.

Das erste Referat vor den 47 Teilnehmern aus allen Nationen war Prälat Oesterreicher, dem Inspirator und Promotor der Judenerklärung „Nostra Aetate IV“ übertragen worden. Trotz seines bescheidenden Zurücktretens konnte er nicht verhindern, daß in den Begrüßungs- und Schlußansprachen seines langjährigen Wirkens im Dienst der Versöhnung zwischen der Kirche und dem Judentum gedacht wurde. — In seinem Referat: „Unter dem Bogen des einen Bundes“ stellte er die These auf: „Es gibt nur ein einziges Gattesvolk, das aus Israel und der Kirche besteht“. In den folgenden Referaten und Diskussionen wurde diese These kritisch hinterfragt, angefochten und bejaht, bis sie schließlich, in nuancierter und vorsichtig formulierter Weise, von den meisten Tagungsteilnehmern angenommen wurde. — Prälat Oesterreicher stützte seine These auf eine geraffte Darstellung von Israels Heilsgeschichte, wobei der Berufung Abrahams (Gen 12, 1—4) besondere Beachtung geschenkt wurde. Das Gotteswort: „Werde ein Segen“ wurde als Befehl an die Geschichte, als „Schöpfungswort“ gedeutet. Durch Abraham bricht Gottes Segen in die gesamte Menschheit ein. Die Abrahams-Sippe wird gleichsam zum Treuhänder, Verwalter und Bewahrer des Segens für alle Menschen. — Unter den neu-testamentlichen Aussagen über das eine Gottesvolk wählte der Referent Eph 2, 14 als besonders aufschlußreiche Stelle aus: „Christus ist es, der uns allen den Frieden gebracht und Juden und NichtJuden zu einem einzigen Volk gemacht hat.“ Was in den Kapiteln 9—11 des Römerbriefes noch als endzeitliche Hoffnung ausgesprochen wird, steht hier schon als — freilich noch verhüllte — Gegenwart vor uns.

Die folgenden Referate beschäftigten sich mit dem Werden des Gottesvolkes im Lauf seiner bewegten Geschichte. Hier wirkte sich die sorgfältige Vorbereitung wohltätig aus: Die Referate waren so gut aufeinander abgestimmt, daß sich ein lückenloses Bild ergab und Wiederholungen vermieden wurden. Doktor Rudolf Schmid, o. Professor für Altes Testament an der Universität Luzern, sprach von Israel als Volk Gottes von den Anfängen bis zum babylonischen Exil. Dem Ursprung des Gottesvolksbegriffes nachgehend, fand er ihn in Berufung, Erwählung und Verheißung von Seiten Gottes grundgelegt, längst bevor Israel als völkische Gemeinschaft existierte. Die religiösen Erlebnisse der Patriarchen verdichteten sich durch die Herausführung aus Ägypten zu der Erfahrung des von Gott gestifteten Bundes, der trotz seiner Gna-denhaftigkeit vom menschlichen Partner Bereitwilligkeit und Gehorsam fordert. Während im deutercmo-mischen Verständnis nur die „12 Stämme“ als Volk Gottes betrachtet wurden, führte die prophetische Kritik an der falschen Heilssicherheit der führenden Kreise zu einer Ausweitung dieses Begriffes. Nicht das ganze Volk, sondern nur ein völkischer und religiöser Kern, der „heilige Rest“, wird die drohende

Vernichtung überdauern. Aus ihm wird Gott nicht bloß die Heilsgemeinschaft der Zukunft erwachsen lassen, sondern durch ihn das allumfassende Hell aller Völker verwirklichen.

Dr. Kurt Schubert, o. Professor und Vorstand des Institutes für Judaistik an der Universität Wien, führte die Darstellung der Geschichte des Gottesvolkes vom Exil bis zur Hasmonäerzeit weiter. Er zeigte, daß sich in dem damals entstandenen Bericht über den mit der ganzen Menschheit geschlossenen Noahbund erstmalig ein stark universalistischer Zug findet. Auch der Schöpfungsund Sintflutbericht lassen erkennen, daß Israel und Welt ein und dasselbe eschatologische Ziel haben. Gleichzeitig wird sich Israel aber gerade im Exil seiner Sonderstellung bewußt. Heiligung des Sabbats, Beschneidung und Speisegesetze werden zum „Zaun“, der Israel von der Befleckung durch die Heidenwelt trennen soll. Als Korrelat zu diesem jüdischen Erwählungsbewußtsein entsteht der „AntiJudaismus“ der Heiden. — In der nachexilischen Zeit wird sich Israel seines Auftrages, „Licht für die Heiden“ zu sein, stärker bewußt: Eine Elite, die sich zu der Gruppe der „Frommen“ zusammenschließt, fühlt sich als „Gottesvolk für die anderen“ und erkennt ihrer Gesetzeserfüllung eine heilsvermittelnde Funktion zu.

Dr. Clemens Thoma SVD schloß seinen Vortrag unmittelbar an die Ausführungen Prof. Schuberts an, dessen Schüler und langjähriger Assistent er vor seiner Ernennung gewesen war. Er behandelte die „Zeit Jesu“, religionsgeschichtlich gesehen also die Zeit von etwa 170 v. Chr. (167: Entweihung des Tempels durch Antiochos IV.) bis 135 n. Chr. Niederschlagung des Bar-Kochba-Aufstandes). Nachdem er die Religionsparteien (Essener, Pharisäer usw.) dieser krisenreichen Zeit kurz skizziert hatte, beschäftigte er sich eingehend mit der Frage, was uns Christen mit den Juden von damals und heute gemein ist und in welcher Weise wir uns als Bürger des einen Gottesvolkes betrachten können. Von einer aus den Aussprüchen berühmter Rabbiner seit der Zeit Jesu zusammengestellter Selbstdeflnition des „echten Juden“ ausgehend, fügte er hinzu: „Wir Christen wollen keine Juden werden. Wir stehen zu Christus und zur Taufe. Unsere Selbstaussagen sind aber nur im Zusammenhang mit dem Judentum möglich. Unser Glaube und unsere Hoffnung können nicht isoliert vom Judentum ausgedrückt werden. Die angeführten Definitionen des Judentums aus der Zeit Jesu könnten auch christlich adaptiert werden. Auch wir befinden uns unter den Fittichen der Sekinah (der Wolke, die Gottes Gegenwart anzeigt), sind Söhne und Töchter der kommenden- Welt, haben Amt und Verpflichtung für alle Menschen und leben in der Spannung zwischen Bedrohung und Wunder. Unsere christliche Sendung verlangt daher von uns, daß wir uns bemühen, berechtigtem oder unberechtigtem Miß-

trauen von Seiten des Judentums durch innerkirchliche Reformen in Wort und Tat entgegenzuwirken.“ — In den drei folgenden Referaten der Professoren Theo C. De Kruijf (Utrecht), Kurt Hruby (Paris) und Dirk van Damme OP (Fribourg) wurde die verhängnisvolle Trennung zwischen Judentum und Kirche, die sich nach dem Ende des jüdischen Krieges (66 bis 70 n. Chr.) vollzog, im Licht des Neuen Testamentes, der ältesten Kirchenschriftsteller und des rabbinischen Schrifttums jener Zeit betrachtet. Prof. de Kruijf stellte nach sorgfältiger terminologischer Untersuchung fest, daß sich die auf die Kirche angewendete Bezeichnung „neues Volk“ in den kanonischen neutestamentlichen Schriften nirgendwo findet. Die stark verbreitete Ansicht, daß Israel seine einstige Würde als Gottesvolk verloren und sie der Kirche abgetreten hätte, findet daher in der Bibel keine Grundlage.

Dr. Alfons Deißler, o. Professor für Altes Testament an der Universität Freiburg/Br., führte durch sein Referat „Das christliche Bundesdenken — Gedanken zur Aktualisierung der christlichen Bundestheologie“ das Thema des Symposions zu einem vorläufigen Abschluß. Noch einmal ließ er das Gottesbild der Bibel in seiner ganzen Schönheit und Größe, seiner Bundeswilligkeit und Treue, seinem jeden Partikularismus sprengenden Heilsangebot vor den Augen der Teilnehmer erstehen. Aber die Menschheit — verkörpert durch Israel — antwortet mit immer neuem Abfall und Bundesbruch. Erst Jesus, der Christus, der wahre Gottesknecht, ist der eigentliche Bundespartner. Nur in ihm ist der Neue Bund verwirklicht, der Neue Äon schon Gegenwart. Für Juden und Christen gilt das „Noch nicht“. Beide sind als „wanderndes Gottesvolk“ gemeinsam unterwegs.

Dr. Magnus Löhrer OSB, Leiter der Paulus-Akademie Zürich, sprach das pastorale Schlußwort. Er kleidete es in die Frage: Wie kann die Kirche ihren Volk-Gottes-Charakter mehr und mehr transparent machen? Sie müsse — führte er aus — sich immer tiefer ihrer Mittlerfunktion bewußt werden, Zeichen des Heils für die Welt zu sein. Dabei wird sie sich ebenso vor falscher Anpassung an die Welt wie vor Abkapselung zu hüten haben. Je mehr sie sich als wanderndes Gottesvolk erkennt, um so eher wird sie sich vor Verbürgerlichung und falschem Machtstreben bewahren.

Wollte man das Anliegen des Symposions kurz zusammenfassen, so fände sich wohl keine prägnantere Formel als ein Gebet aus der Liturgie der Osternacht, das bei einer der gemeinsamen Eucharistiefeiern dieser Tage gebetet wurde: „Selbst in unseren Tagen sehen wir, Gott, die Leuchtkraft deiner alten Wunder. Was dein mächtiger Arm für das eine Volk getan, als du es von den mächtigen Verfolgern befreitest, das wirkst du zum Heil der Völker durch das Wunder der Wiedergeburt. Gib, daß alle Menschen Kinder Abrahams werden und teilhaben an der Würde Israels.“

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