6979260-1986_05_04.jpg
Digital In Arbeit

Das Elend der Zeitgeschichte

19451960198020002020

Verzerrte und verfälschte Geschichtsbilder sind gefährlich: Sie können, ist der Autor überzeugt, antidemokratische Ideologien nähren. Aber in Lehrbüchern stehen sie.

19451960198020002020

Verzerrte und verfälschte Geschichtsbilder sind gefährlich: Sie können, ist der Autor überzeugt, antidemokratische Ideologien nähren. Aber in Lehrbüchern stehen sie.

Werbung
Werbung
Werbung

Bereits 1981/82 erschien in der FURCHE eine Serie zum Thema Schulbuch, in der auch Lehrbücher für Zeitgeschichte ausführlich kritisiert worden sind. Die Kritik war ausführlich, die Wirkung gering.

Vor mir liegen jetzt drei Lehrbücher für Zeitgeschichte aus

dem Verlag Ferdinand Hirt (Angaben zur Bibliographie als Fußnoten), alle von mehreren Autoren verfaßt. Keines dieser Bücher bietet ein Personenverzeichnis und nur eines ein Sachverzeichnis. Auch dieses ist ohne Sorgfalt zusammengestellt.

Statt dessen finden die Leser nach jedem der mit zahlreichen Bildern verzierten Kapitel, die eine verwirrende Menge von Zitaten und Tatsachen enthalten, kurzgefaßte „Arbeitsaufgaben". Diese ermöglichen intensive Vorbereitung auf Prüfungen ohne „Belastung" mit dem Lehrstoff als solchem. Einsicht und Verständnis werden dabei nicht vermittelt, zumal wichtige Ereignisse und Entwicklungen übergangen werden:

So wird die beispielhafte Aufbauarbeit der sozialdemokratischen Verwaltung von Wien (1919 bis 1933) in keinem der drei Lehrbücher erwähnt. Dabei ist diese Aufbauarbeit weltweit als monu-■. mentale Leistung anerkannt worden, die sogar in Lehrbüchern in Amerika erwähnt wird. Nicht erwähnt wird auch die Bauernpartei „Landbund für Österreich" und dessen überaus konstruktive Rolle in der damaligen Politik.

Die Zwangsaussiedlung von über zwölf Millionen Deutschen aus den Ostgebieten im Jahr 1945 wird in diesen drei Lehrbüchern mit einem oder zwei Sätzen er-

wähnt. Diese ist von Bedeutung im Hinblick auf die Kinder und Enkel der Opfer dieser Vertreibung und vor allem als folgenschwere geschichtliche Wahrheit.

Unerwähnt bleibt zudem, daß die Sozialdemokratie 1931 Ignaz Seipels Einladung zur Teilnahme an einer Koalitionsregierung abgelehnt hat. Die Wahlergebnisse vom 24. April 1932 werden gleichfalls nicht erwähnt, so wie auch die sozialdemokratische Reaktion auf diese Ergebnisse. Damit werden weichenstellende Ereignisse und Entscheidungen von zukunftsträchtiger Bedeutung einfach ignoriert.

Bezüglich der Verfassungsreform von 1929 — das Werk demokratischer Zusammenarbeit aller damals im Parlament vertretenen Parteien - werden einige Erweiterungen der Befugnisse des Bundespräsidenten aufgezählt. Es wird jedoch nicht gewürdigt, daß diese Verfassung im Jahr 1945 neuerlich das Grundgesetz der wiedererstandenen Republik geworden ist.

Zwei dieser drei Lehrbücher enthalten sogar eine grobe Geschichtsfälschung: Demnach habe „die kommunistische Partei Österreich den Kampf gegen die

Sozialdemokratie aufgegeben, um mit dieser eine Einheitsfront zu bilden". Laut „Zeitgeschichte" von Walter Göhring und Herbert Hasenmayer fand dies im Jahr 1931 statt (S. 53) und laut „Gestaltete Welt 3" von Walter Aspernig im Jahr 1925 (S. 125).

Nicht erwähnt wird, daß das Motto der sogenannten „ANTI-FA" lautete: „Antifaschistische Einheitsfront unter unserer Führung." Dabei war das Kräfteverhältnis zwischen den Kommunisten, welche die Führung dieser Einheitsfront beanspruchten, und der Sozialdemokratie bei den Wahlen 1:80. Nicht erwähnt wird außerdem, daß die Kommunisten bis zum Jahr 1934 die Sozialdemokraten als „Sozialfaschisten" bezeichnet haben.

Sofern diese Vermittlung von „Zeitgeschichte" überhaupt Spuren hinterläßt, ist es kaum zu verwundern, wenn die Schüler es als das entscheidende Versäumnis der Sozialdemokratie betrachten, daß diese auf das kommunistische Angebot einer „antifaschistischen Einheitsfront" nicht eingegangen ist

In den Medienkoffern der Allgemeinbildenden höheren Schulen (AHS) dient Lehrern und Schülern der Sammelband „Österreich 1918-1938" (hrsg. von E. Weinzierl/K. Skalnik; Styria 1983) als Handreichung. Die meisten der Beiträge verschiedener Autoren fördern Einsicht in und Verständnis für die jeweilige Thematik. Zwei dieser Beiträge enthalten jedoch grobe Ge-

Schichtsfälschungen, die eigentlich mit korrigierenden Einlagen richtiggestellt werden sollten.

Im Beitrag „Die Christlichsoziale Partei" (S. 249-276) präsentiert der Zeithistoriker Anton Staudinger Bundeskanzler Engelbert Dollfuß als Sympathisanten der Nationalsozialisten. Er erwähnt nicht einmal, daß dieser von den Nationalsozialisten ermordet worden ist — um die Leser nicht zu verwirren.

Vorher behauptet Staudinger ohne Quellenangabe, daß christlichsoziale Politiker, unter ihnen Seipel und Vaugoin, im Jahr 1919 „die Ausschaltung der Sozialdemokratie aus der Regierung durch militärische Gewaltanwendung planten" (S. 259). Das von den Sozialdemokraten abgelehnte Koalitionsangebot von Seipel am 19. Juni 1931 wird nicht erwähnt.

Dagegen unterstellt Staudinger den Christlichsozialen, sie hätten nach den Landtags- und Gemeinderatswahlen vom 24. April 1932 alles daran* gesetzt, Neuwahlen des Parlaments zu vermeiden, „um einer Koalition mit den Sozialdemokraten auszuweichen". Staudinger erwähnt nicht, daß Otto Bauers Artikel „Der 24. April" in der Zeitschrift „Der Kampf" (Mai 1932) die sozialdemokratische Ablehnung einer Koalition bekräftigt hatte.

Auch für den Beitrag über die „Kommunistische Partei" (S. 317-329) von Herbert Steiner wäre eine korrigierende Einlage angezeigt. Steiner berichtet ausführlich über das Angebot einer „Antifaschistischen Einheitsfront" der Kommunisten an die Sozialdemokraten. Hier wird als Zeitpunkt für dieses Angebot das Jahr 1927 angegeben.

Der Autor gibt zwar zu, daß die Kommunisten in Österreich von der Kommunistischen Internationale die Bezeichnung „Sozialfaschisten" für die Sozialdemokraten übernommen haben, was „die Verbindungen zur Sozialdemokratie erschwerte" (S. 322). Die geradezu lächerliche Bedeutungslosigkeit der KPÖ im Vergleich zur mehr als 80mal so starken Sozialdemokratie wird jedoch auch hier nur angedeutet. Uberhaupt nicht erwähnt wird der Anspruch der Kommunisten auf die Führung der von ihnen vorgeschlagenen „ANTIFA-Einheitsfront". Zu erwähnen wäre auch, daß die Kommunisten Trotzki seine Bereitwilligkeit zur Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten in einer wirklichen antifaschistischen Einheitsfront als Verrat vorgeworfen haben.

Laut Gesetz erfordert die Einlage von Korrekturen in Bücher die Zustimmung der betreffenden Autoren. Wir haben es jedoch hier nicht mit einem Naturgesetz zu tun. Seit Jahren werden die Lehrbücher für Zeitgeschichte kritisiert. Man sollte sie jedoch nicht nur kritisieren, man sollte sie endlich verändern!

Bei den im Verlag Ferdinand Hirt erschienenen kritisierten Schulbüchern handelt es sich um die approbierten Lehrbücher:

ZEITGESCHICHTE. Von Walter Göhring und Herbert Hasenmayer. 21, verbesserte Auflage. Wien 1979.

EPOCHEN DER WELTGESCHICHTE 3. Vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart. Von Herbert Hasenmayer, Johann Payr, Kurt Tschegg. Wien 1983.

GESTALTETE WELT 3. Von der Neuzeit zur Gegenwart. Von Walter Aspernig, Albert Atzl, Klaus Volker, Gerhard Winkler. Wien 1984.

Walter B. Simon ist em. Universitätsprofessor für Soziologie an der Universität Wien.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung