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Das Elend wird Alltag

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Maßgebliche Persönlichkeiten befürworten einen Krieg gegen Pakistan. Sie halten eine gewaltsame Vertreibung des geschwächten Erzfeindes für billiger als die ihnen durch die Völkerwanderung aus dem Nachbarland entstehenden, unerträglichen Belastungen. Frau Gandhi und viele besonnene Inder haben jedes solche Ansinnen zurückgewiesen. Doch ängstigt weitblickende Inder eine noch größere Gefahr als die Möglichkeit militärischer Verwidc-lungen mit Pakistan: offenbar entgleitet auf beiden Seiten der Grenze das Chaos der Kontrolle sowohl der Awami-Liga als auch der indischen und pakistanischen Staatsführung und geht immer mehr in die Hände der Extremisten über, die nach dem Muster der Naxaliten die völlige Auflösung der bestehenden Staatsund Gesellschaftsordnung auf dem Subkontinent vorantreiben.

Millionen verzweifelter Flüchtlinge stehen zwischen den Fronten des asiatischen Kräftespiels. Die pakistanischen Behörden fordern sie zur Rückkehr auf, mit dem Versprechen, daß nur „Rädelsführer des Aufstandes" verhört und bestraft werden. Doch hört man, daß zwar im Grenzgebiet 23 Auffanglager eingerichtet wurden, in jedes dieser Lager aber im Lauf von zwei Wochen nur durchschnittlich tausend Flüchtlinge zurückgekehrt seien.

Außerdem wurden viele Städte dermaßen verwüstet, daß in manchen, wie in Jessore, einer Stadt mit ursprünglich 70.000 Einwohnern, nur noch ein Viertel und in manchen kleineren nur ein noch kleinerer Prozentsatz der Bewohner in einigermaßen intakte Wohnstätten zurücäc-kehren könnte. Inzwischen hocken auf der indischen Seite Hunderttausende im heftigen Monsunregen Tag und Nacht unter Regenschirmen und legen ihre Kinder im dicken, oft choleraverseuchten Monsunschlamm schlafen.

Befragt, warum sie nicht in die Heimat zurückkehren, erklärten viele, daß sie allenfalls den Versprechungen der pakistanischen Behörden Glauben schenken, aber aus

Furcht vor Repressalien anderer Bevölkerungsgruppen in Ostpakistan die Rückkehr unterlassen, da bei blutigen Kämpfen zwischen Volksgruppen allein etwa hunderttausend Menschen umgekommen sein sollen.

Viele Bengalen fürchten sich vor den Biharis, einem das westpakistanische Urdu sprechenden, etwa fünf Millionen zählenden Volksstamm, da nach dem Ausbruch der Femdseligkeiten die Militärbehörden unzählige Bengalen aus der Polizei und der Beamtenschaft entließen und sie durch ihre Todfeinde, die Biharis, ersetzten. Es fällt heute schwer, sich von der ungeheuren Kompliziertheit der Lage im Ostteil des indischen Subkontinents ein Bild zu machen. Es wissen nur wenige, daß für den Guerillakrieg gegen Indien besonders geschulte Bewohner der Vorberge des Himalaja ebenfalls an den Kämpfen in Ostpakistan teilnahmen. Sie hassen Indien und kämpften gemeinsam mit der Armee gegen die ihnen als indienfreundlich bekannten Bengalen.

Dabei erlitten sie große Verluste, ebenso wie die auf 80.000 bis 100.000 Mann geschätzten, in Ostpakistan operierenden westpakistaniscäien Streitkräfte, deren Verluste auf nahezu tausend Offiziere und viele tausend Soldaten geschätzt werden. Oft wollte die Armee inmitten der Millionen von Gegnern keine andere Möglichkeit sehen, als in einem breiten Streifen auf beiden Seiten der wichtigen Verkehrswege alle Dörfer niederzubrennen.

Haß, Chaos und Ratlosigkeit stiegen seither ins Ungemessene. Angesichts der immer verworrener werdenden Lage im bengalischen Hexenkessel ist es verständlich, daß sich nunmehr die Weltmächte bemühen, in erster Linie den schädlichen Rückwirkungen der Katastrophe auf ihre eigenen Positionen entgegenzuarbeiten. Es ist aber bezeichnend, daß die an der Entwicklung im östlichen Teil des indischen Subkontinents ganz besonders interessierte Macht, China, hiebet am wenigsten sichtbar und keinesfalls, wie da und dort fälschlich gemeldet, mit Ti-uppen in Erscheinung tritt.

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