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Das Ende der „Isolationisten“

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Mitunter zwingt der Zustand der öffentlichen Meinung einen Staatsmann, seine nüchterne Realpolitik dadurch zu bemänteln, daß er ihr ein utopisches, jedenfalls in weiter Ferne liegendes Ziel zuschreibt. In den zwanziger Jahren konnte Gustav Stresemann den Deutschen die Verständigung mit Frankreich nur dadurch schmackhaft machen, daß er sie als ersten Schritt zur Rückgewinnung der an Polen verlorenen Ostprovinzen ausgab.

Einem ähnlichen Zwang sehen sich in noch höherem Maße kommunistische Staatsmänner ausgesetzt. In ihrer Welt gelten die Verwirklichung der Weltrevolution und die Errichtung der klassenlosen Gesellschaft als hehre, ideologisch geheiligte

Ziele. Alles politische Handeln wird daran gemessen, ob es im Lichte dieses, paradiesisch-utopischen Endzustandes bestehen kann.

Kommunistische Reden und Parteidokumente vermitteln in zweifacher Hinsicht einen täuschenden Eindruck. Erstens spiegeln sie durch ständige Hervorhebung des gemeinsamen großen Endzieles eine Übereinstimmung im Grundsätzlichen vor, die es in Wirklichkeit unter kommunistischen Staaten und Parteien niemals gegeben hat. Zweitens erwecken sie in dem naiven Leser die Vorstellung, als bestehe kommunistische Politik in der Anwendung abstrakter marxistisch-leninistischer Dogmen auf das Tagesgeschehen. Tatsächlich verhält es sich natürlich umgekehrt. Zuerst kommt die durch normale machtpolitische Interessen motivierte Tat. Aufgabe der Ideologen ist es dann, die passende Begründung aus dem reichen Zitatenschatz des Marxismus-Leninismus nachzuliefern. Dabei braucht die Begründung in keiner realen Beziehung zur Tat zu stehen: eine kommunistische Aggression, wie die soeben erfolgreich beendete in Südvietnam, kann sehr wohl mit „gemäßigten“ Argumenten — in diesem Falle mit der Notwendigkeit, die Einhaltung des Pariser Vietnam-Abkommens zu erzwingen — ein Rückzug mit revoluzzerhaften, ultralinken und dogmatischen Argumenten begründet werden.

Die jüngsten Vorgänge im Kreml

— Breschnjews Sieg über Scheljepin

— sind ein anschauliches Beispiel für die verschlungenen Pfade kommunistischer Revolutions-Diailektik. Die westliche Presse hat den Ausgang des Kreml-Machtkampfes überwiegend als einen Triumph der von Breschnjew verfochtenen Friedensund Koexistenzlinie über die dogmatischen Ansichten des Schreibtischmörders und, Neo-Stalinisten Scheljepin gedeutet. Eine solche oberflächliche Sicht der Dinge ist nicht zuletzt ein Erfolg der sowjetischen Desinformations-Strategie gegenüber den westlichen Massenmedien.

Breschnjew als Friedensengel

Stalin wußte ebenso gut wie später Chruschtschow und heute Breschnjew: Wer sich dem Bürger im Gewand der Ordnung, der Gesetzmäßigkeit und des Friedens nähert, kann sicher sein, die öffentliche Meinung auf seiner Seite zu haben. Hitler hatte geschworen, nur auf legalem Wege an die Macht zu kommen.

Breschnjew präsentiert sich dem Westen in der Rolle des Friedensengels, der für „Entspannung“, „Koexistenz“ und „Zusammenarbeit“ eintritt.

Gleichwohl steht Breschnjew, wie vor ihm Stalin und Chruschtschow, in der imperialistischen Machttradition des Großrussenturns. Das sozialistische Weltsystem mit der Sowjetunion als führender Kraft erscheint aus seiner Sicht als der beherrschende Faktor der Weltentwicklung, der kapitalistische Erbfeind als politisch geschwächt, von wirtschaftlichen Krisen geschüttelt und militärisch auf dem Rückzug. Für den innenpolitischen Hausgebrauch besagt diese Breschnjew-Doktrin, daß der Aufbau des Sozia-

lismus in der Sowjetunion abgeschlossen und das Land mit dem gleitenden Übergang zum Kommunismus in eine neue, qualitativ höhere Phase seiner Entwicklung eingetreten sei, die ihm automatisch die Führungsrolle in der kommunistischen Weltbewegung sichere.

Die Legende von den Parteifein-den, die den Völkern der'Welt den Kommunismus angeblich auf den Spitzen der Bajonette bringen wollen, sollte lediglich die Tatsache verschleiern, daß Cruschtschow und nach ihm Breschnjew auf den Bajonetten der Sowjetarmee an die Macht gelangt waren. Sie schuf ferner die Möglichkeit, ihre eigene dynamische expansive Außenpolitik (Berlin, Kuba, Nahost, Tschechoslowakei, Vietnam) mit einer „gemäßigten“, quasi revisionistischen Phraseologie zu begründen.

Nach einem Grundmuster, das ursprünglich in den auf Leben und Tod geführten Fraktionskämpfen der Stalin-Ära geprägt wurde, schlägt das Pendel der Kremlpolitik bald nach rechts, bald nach links aus. Die „rechte“ Variante wird derzeit von der Breschnjew-Linie in der sowjetischen Außenpolitik verkörpert. Gestützt auf eine Gruppe ihm treu ergebener Marschälle, sucht Breschnjew die sowjetische Macht- und Einflußsphäre in aller Welt auszudehnen: durch gesteigerte Rüstungsanstrengungen bei andauerndem Konsumverzicht der Sowjetbürger sowie mit Hilfe des weltweiten kommunistischen Propaganda- und Spionageapparates.

Friedensideologie und Entspannungsphraseologie sind dabei nur propagandistisch wirksame Verkleidungen für eine zynische Macht- und Gewaltpolitik, die Frieden und Koexistenz sagt, aber die „Pax sovieti-ca“ als Zwang zur Anpassung an die Macht der von der Sowjetarmee geschaffenen Tatsachen meint.

Die „linke“ Komponente sowjetischer Politik macht sich von Zeit zu Zeit durch Führungs- und Richtungskämpfe im Moskauer Politbüro bemerkbar. Doch die Abschirmung durch die Zensur ist so perfekt, daß selten ein Echo des Schlachtenlärms nach draußen dringt. Gleichwohl läßt sich aus Reden und Aufsätzen in der Parteipresse ein ungefähres, wenn auch grobkörniges Bild von den politischen Absichten der Anti-Bresch-njew-Fraktion rekonstruieren.

So hat der soeben, angeblich „auf eigenen Wunsch“, aus dem Politbüro

ausgeschiedene Alexander Schlejepin bereits im Sommer 1973 versucht, dem Westen ein durchgehendes Al-ternativ-Programm zu der Bresch-njewschen „Politik der Stärke“ zu signalisieren. In dem von Scheljepin kontrollierten Gewerkschaftsorgan „Trud“ entwickelte ein Professor Baglai am 8. August 1973 eine Strategie, die in vielem an die außenpolitischen Thesen der Rumänen, der Jugoslawen sowie der spanischen und italienischen Kommunisten — des linken Flügels im Weltkommunismus — erinnert.

„Es wäre falsch“, schrieb der Gewerkschaftsideologe, „den antiimperialistischen Kampf immer nur unter dem Gesichtswinkel der Konfrontation, des Wettrüstens und der Teilung der Welt in Militärblöcke zu sehen.“ Die internationaile Arbeiterbewegung habe nie die Blockstruktur der internationalen Beziehungen akzeptiert, wie überhaupt die Ost-West-Spaltung eine „optische Täuschung“ sei. Die Klassenscheide verlaufe nicht zwischen den Kräften des Fortschritts und der Reaktion.

Die Zweiteilung der Welt

Mit solchen Thesen rührte der Scheljepin-Mann an den innersten Kern der sowjetischen Koexistenz-Doktrin. Denn die Zweiteilung der Welt ist die Voraussetzung für den Versuch der Kremlführer, das internationale Gleichgewicht der Kräfte durch eine gigantische Aufrüstung der Sowjetunion umzustürzen und durch ein sowjetisches Übergewicht zu ersetzen. In den Worten des sowjetischen Verteidigungsministers Marschall Gretschko („Prawda“ vom 9. 1. 1974) nahm sich das so aus: Je

besser die Sowjetunion gerüstet sei, „desto ruhiger“ werde die Welt sein.

Gegen dieses Konzept setzt Baglai seine Strategie des aktiven revolutionären Kampfes. Die Vorteile dieser Kampfform sieht er in den günstigen Einwirkiungsmöglichkeiten der Kommunisten auf die Arbeiterklasse im Westen sowie auf das revolutionäre Potential der Dritten Welt. Die Weltrevolution könne sich am besten unter den Bedingungen des Friedens, der Sicherheit und der Abrüstung durchsetzen. Jede Politik der militärischen Konfrontation schwäche den Sozialismus.

Die weltrevolutionär-messiani-schen Obertöne in dem „Trud“-Ar-tikel sollten dem Westen nicht den Blick auf den im Grunde pazifistischen Kern dieses Programms verstellen. Es handelt sich offensichtlich um die Ansichten einer breiten oppositionellen Strömung im Politbüro. Schon seit langem drängen Ministerpräsident Kossygin und eine Gruppe von bekehrten Stalinisten — Suslow, Podgorny, Scheljepin — auf eine Modernisierung des Sowjetsystems, um das bürokratisch verknöcherte Sowjetreich in die Lage zu versetzen, den vor ihm liegenden Belastungsproben— in erster Linie der Auseinandersetzung mit China — gewachsen zu sein.

So überging der „Oberfalke“ Suslow im November 1973 in einer bemerkenswerten Rede in Wilna demonstrativ das Argument der Militärs, daß mehr RüstungdieFriedensaussichten erhöhe. Fünf Politbüro-Mitglieder widersetzten sich im August 1968 dem Beschluß der von Breschnjew geführten Mehrheit, in der Tschechoslowakei militärisch zu intervenieren. Aus den unterschiedlichsten Motiven treten sie für eine

Entmachteter Gewerkschaftschef Scheljepin: Ost-West-Spaltung eine „optische Täuschung“?

Photo: Klomfar

Hebung des Lebensstandards durch Verringerung der Rüstungslasten ein.

Die Entfernung Scheljepins aus dem Politbüro hat die Front dieser sowjetischen „Neo-Isolationisten“ entscheidend geschwächt. Der Machtzuwachs für die Rüstungslobby ist nicht zu übersehen. Breschnjew hat die Krise vom vergangenen Winter offenbar endgültig, überwunden und hält die Zügel der Kremlpolitik wieder fest in der Hand. Dennoch besteht für den Westen zum Jubel kein Anlaß. Nicht nur unter Kommunisten gilt: Sowenig wie Friedensbeteuerungen auf eine Politik der Mäßigung und der Vernunft schließen lassen, so wenig ist ein weltre-volutionär gewandter Wortradikalismus mit einer Politik der Unvernunft und der Aggression gleichzusetzen.

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