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Das Ende des gaullistisdienMythos

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Als Finanzminister Giscard d'Estaing 1969 zur damals in Bildung befindlichen Mehrheit George Pom-pidous stieß — er hatte zu dieser Zeit noch keine strukturierte Partei im Hintergrund — stellte er Bedingungen, die in dem klassischen „ja, aber...“ formuliert wurden. Giscard d'Estaing war kein bequemer Bundesgenosse für die gaullistische Sammelpartei UDR und wurde mehr als einmal als „Kaktus“ des Regimes bezeichnet.

Dieses berühmte „ja, aber...“ wird der Finanzminister in den nächsten 14 Tagen von seinen gaullistischen Partnern wohl öfter zu hören bekommen. Obwohl der Ghef der Unabhängigen Republikaner am 5. Mai mit 32,85 Prozent der Wählerstimmen einen ersten relativen Sieg erfochten hatte, den er allerdings mit Jean Lecanuet, dem Präsidenten des bisherigen oppositionellen Zentrums, zu teilen hat, muß er noch unibedingt die 14,64 Prozent jener Bürger für sich gewinnen, die dem gaullistischen Kandidaten Chaban-Delmas den Vorzug gaben.

Die Situation ist wirklich eigenartig. Der Gaullismus — als die tragende politische Kraft Frankreichs seit dem 13. Mai 1958 — hat aufgehört, zu dominieren. Aber sein Kernkreis ist das Zünglein an der Waage, von dem es abhängt, ob es zu einer breiten Front der vereinten Linksparteien mit jenen Gaullisten kommt, die eine Sozialreform in den Vordergrund ihrer Überlegungen gestellt 'halben. Für sie ist der Finanzminister ein Erzkonservativer, ja sogar ein Reaktionär. Bereits in der Wahlnacht hatten verschiedene maßgebende Sprecher der Linksgaullisten die Möglichkeit aus/geschlossen, für Giscard d'Estaing zu stimmen. Allerdings ist der letzte Schritt noch nicht gewagt und ein Bekenntnis zu Francois Mitterand unterlassen worden.

Mag auch die Stabilität der Wähler hervorzuheben sein — im Vergleich zu den Legislativwahlen 1973 hat sich wenig geändert — ist doch die Achse einer zukünftigen Mehrheit im Falle eines definitiven Wahlsieges Giscard d'Estaings gründlich verschoben worden. Die schweigende Mitte, von der wir oft gesprochen haben und die als ein konstantes Element anzusehen ist, hat sich in weit größerem Umfang mobilisiert, als dies noch knapp nach dem Tod George Pompidous zu erwarten war.

Zieht man die erste Bilanz des 5. Mai, ist aus den Ergebnissen abzulesen, daß dieses mittlere und kleine Bürgertum Veränderungen und grundlegende Reformen wünscht, aber jedes Abenteuer entschieden ablehnt. Bemerkenswerterweise haben zahlreiche Sozialisten sowohl für Ohaban-Delmas als auch für Giscard d'Estaing gestimmt. Sie wollten dadurch gegen die enge Allianz von Sozialisten und Kommunisten protestieren und desavouierten das gemeinsame Programm.

Die Union der Linksparteien konnte wohl einige Prozente gegenüber den letzten Referenzwahlen da-zugewinnen, alber sie sind auch weiterhin nicht in der Lage, eine absolute Mehrheit zu konstituieren.

Das beachtlich gute Abschneiden der Kandidatin der extremen Linken, der Trotzkistin Arlette Laguil-ler, fällt auf. Da sie die einzige Frau war, die in der Kampagne auftrat, und nicht nur extrem linke Ideen propagierte, sondern auch die Rechte des zweiten Geschlechts mit Nachdruck und Charme repräsentierte, konnte sie mit zahlreichen Stimmen weiblicher Wähler rechnen. Es ist nicht sicher, ob diese ausnahmslos in das Lager Mitterands abwandern werden. Der Bürgermeister von Tours, Royer, konnte mit 3,21 Prozent lediglich einen Achtungserfolg erzielen und stürzt in den Bereich der marginalen Kandidaten, die sich nicht besonders auszeichneten. Auch die Kleinkaufleute und Gewerbetreibenden, auf die der Exminister rechnete, haben sich zu den beiden anderen Kandidaten der ehemaligen Majorität bekannt.

Wie vorauszusehen war, vermochte Frangois Mitterand mit 43,36 Prozent die Spitze einzunehmen. Aber in seinem Hauptquartier herrschte in der Wahlnacht keineswegs die freudigste Stimmung. Die Experten waren sich im klaren, daß Mitterand am 5. Mai mindestens 46 Prozent der abgegebenen Stimmen hätte erhalten müssen, um den 19. Mai sorglos durchzustehen.

Nun beginnt das große Pokerspiel um den Gaullismus, dem voraussichtlich noch einmal in der Geschichte unseres Jahrzehnts eine, wenn auch passive, Rolle zukommt. Die Verantwortlichen der bisherigen Regierungsmehrheit wissen, wie eng das Manövrierfeld Giscard d'Estaings ist. Er muß in der Lage sein, das Odium des Konservatien und des gegenüber sozialen Forderungen nicht aufgeschlossenen Mannes zu verlieren und eine gesellschaftliche Vision zu entwickeln, die die Gaullisten und die zu ihm gestoßenen Sozialisten befriedigt.

Chaban-Delmas hat in den Wahlkampftagen zu oft seinen Konkurrenten beschuldigt, Frankreich in zwei Blöcke zu zerlegen, die rechte gegen die linke Reichshälfte auszuspielen. Diese Gefahr einer noch stärkeren Polarisierung auf zwei diametral entgegengesetzte Kräfte ist nicht von der Hand zu weisen, aber sie liegt in der Natur des politischen Kräfteverhältnisses der Nation. Giscard d'Estaing müßte mehr auf die Meinungen und Aspirationen des humanistischen Sozialismus eingehen, um die Bedrohung von links zu bannen, die von einer starken kommunistischen Partei und der ihr ergebenen Gewerkschaft CGT verkörpert wird. Wie sehr gilt gerade jetzt ein bekanntes Sprichwort der französischen Innenpolitik: „Vater, hüte dich vor rechts — Vater, hüte dich vor links.“

Giscard d'Estaing hat vor einiger Zeit erklärt, Frankreich wünsche, von der Mitte regiert zu werden. Diesem Zentrum eröffneten sich am 5. Mai immerhin beachtliche Chancen. Werden sie begriffen und am 19. Mai bestätigt werden?

Es handelt sich nicht nur um eine Lebensfrage für Frankreich, sondern für das gesamte freie Europa.

Nun, nach dem überraschenden Rücktritt von Bundeskanzler Brandt ist die Europapolitik plötzlich wieder stark in Bewegung geraten. Alle Entwicklungen in Paris und Bonn sind nun möglich. Sollte die CDU aber in der Bundesrepublik zur Macht zurückkehren, kann durch die Achse zum konservativen Giscard d'Estaing wieder eine völlig neue Konstellation entstehen — wie zur Zeit eines Schuman und Adenauer.

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