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Das Ende einer Schul-Weisheit ?
Die Erziehung der Kinder durch die Eltern ist eine unverzichtbare Aufgabe der Familie. Trotzdem wurden immer mehr Aufgaben an das Bildungsinstitut Schule abgegeben.
Die Erziehung der Kinder durch die Eltern ist eine unverzichtbare Aufgabe der Familie. Trotzdem wurden immer mehr Aufgaben an das Bildungsinstitut Schule abgegeben.
In den letzten zwanzig Jahren wurde viel getan, um die Schule als Bildungseinrichtung personell und finanziell zu verbessern. Neue Schulen wurden gebaut, neue Schulzentren mit Sprachlabor, Hauswirtschaftsraum, Physik- und Chemiesaal.
Der Steuerzahler stattete die Schulen mit den neuesten Unterrichtsmitteln aus. Es wurden technologische Konzepte mit programmierter Unterweisung und computerunterstützem Unterricht ausgearbeitet.
Der Lehrer war in diesen Konzepten vor allem ein Experte für Unterrichtsmedien, ein Organisa-
tor von Lehr- und Lernprozessen. Er wurde beauftragt, die Schüler für die Bewältigung künftiger Situationen zu qualifizieren.
Blicken wir einmal in die Literatur, die sich mit dem Berufsbild des Lehrers befaßt, dann wird uns bewußt, wie einseitig dieses Bild des Lehrers in den letzten Jahren geworden ist.
Der Lehrerberuf wurde profes-sionalisiert, von ihm wurden meß- und nachprüfbare Ergebnisse erwartet wie von einem Dreher an der Drehbank, dessen Material nach Zentimeter und Stärke zu messen ist. Dabei wurde beim Lehrer allzu oft vergessen, daß er es mit Menschen, mit Kindern zu tun hat, die alle eine eigene Veranlagung, einen eigenen Charakter und eine eigene Begabung haben.
Der von einigen Bildungspolitikern und Verbandsfunktionären geweckte und genährte Glaube, daß man das Kind begaben könne, also nur die Umwelt für die Leistungen des Schülers bestimmend sei, führte in einen mörderischen Konkurrenzkampf gegen den Mitschüler und gegen das Elternhaus des Nachbarkindes.
Die Eltern forderten außerdem objektive Leistungsmessung, die nachprüfbar, notfalls auch vor Gericht nachprüfbar zu sein hat. Der Zwang, alles aktenkundig zu machen, sie abzusichern, führte zu einer unpersönlichen Atmosphäre an der Schule.
Immer häufiger wurde der Weg zum Gymnasium zur Prestigeangelegenheit; wenn es nicht klappte, waren die Lehrer schuld, die den Sprößling offenbar falsch einschätzten.
Verunsicherte Väter und Mütter beginnen planmäßig, nach blitzgescheiten Büchern, nach Illustrierten, die alle die neuesten pädagogischen Rezepte parat halten, das Intelligenztraining bereits mit ihren Säuglingen und vergessen darüber andere, viel wichtigere Bedürfnisse ihrer Kinder. Tages- und Wochenprogramme werden durchgeführt und abgehakt.
Im Kindergarten — so fordern die Eltern - soll unbedingt etwas „Gescheites" mit den Kindern gemacht werden. Viele Jahrgänge von Kindergartenkindern verlernten so das Spielen, eine der Grundvoraussetzungen für die Aufnahme von Informationen und Wissensstoff in der Schule.
Doch noch eine andere Erscheinung ist festzustellen. Es fällt auf, daß gerade zu einem Zeitpunkt, zu dem der Lehrer in der Wissenschaft nicht mehr als Erzieher verstanden worden ist, sondern als Organisator von Lehr- und Lernprozessen, die Eltern dem Lehrer die Funktion des Erziehers übertragen haben.
Die Meinung, daß die Schule
nur Wissen vermitteln soll, nachprüfbares und abfragbares Material den Kindern zu vermitteln hat, ist bei einem Großteil der Eltern fest verankert.
Gleichzeitig wird davon ausgegangen, daß der intellektuell gebildete Schüler automatisch auch ein erzogener Schüler ist: die Schule vermittelt Wissen, also auch die Erziehung! Damit war das Elternhaus der Erziehungsaufgabe ledig und konnte Fehler im Verhalten des Kindes der Schule in die Schuhe schieben.
Die Emanzipation des Elternhauses von der Erziehungsfunktion setzte gerade zu dem Zeitpunkt ein, als immer mehr der Ruf nach der berufstätigen Frau laut wurde. Diese war physisch und psychisch überfordert, sollte sie nach einem Arbeitstag auch noch für die Erziehung des Kindes verantwortlich sein.
Mutter und Vater konnten ihrer Erziehungsfunktion nicht mehr gerecht werden und wurden darin auch noch durch die sogenannte antiautoritäre Erziehung unterstützt, die die „Nicht-Erziehung" als fortschrittlich pries.
Das Kind wiederum mußte denken: „Wenn keine besondere Folgen für mich entstehen, wenn ich zum Beispiel eine Fensterscheibe einwerfe, warum sollte ich mich dann in meinem Verhalten ändern? Wenn Wohlverhalten nicht von positiven Folgen begleitet ist, warum dann noch Wohlverhalten?"
Kamen nun die Kinder in die Schule, wurden sie mit einer Leistung — Erziehung — konfrontiert, die sie zum großen Teil nicht
kannten, weil die Eltern nicht den Mut zum Erziehen hatten, der Lehrer aber in seiner Rolle als Pädagoge durch die bildungsre-formerischen Maßnahmen verunsichert war.
Tagtäglich mußte der Lehrer beobachten, wie die Nachlässigkeit des Elternhauses die Leistungen der Schüler verminderte.
Nach verschiedenen Umfragep ist erwiesen, daß die Fernsehfilme, die um 21 Uhr beginnen, regelmäßig von Kindern bis zum Alter von 13 Jahren gesehen werden. Ist es da erstaunlich, daß die Kinder
am nächsten Morgen unausgeschlafen, nervös und gereizt in die Schule kommen, daß sie unkonzentriert im Klassenzimmer sitzen?
Kann die Schule bei den gegebenen familien- und gesellschaftspolitischen Zuständen überhaupt noch in der Lage sein, die ihr von den Eltern zugewiesene Erziehungsfunktion wahrzunehmen?
Der Autor lehrt an der Erziehungswissen-schaftlichen Hochschule Rheinland-Pfalz; der Beitrag ist der „Epoche". Juli/August 1984, entnommen.
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