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Das Ende Europas

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Friedrich Heer ist auch zu Lebzeiten nie bequem gewesen. Jetzt trifft uns noch einmal sein Keulenschlag aus einem Nachlaßbändchen, das man sich nicht ersparen darf

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Friedrich Heer ist auch zu Lebzeiten nie bequem gewesen. Jetzt trifft uns noch einmal sein Keulenschlag aus einem Nachlaßbändchen, das man sich nicht ersparen darf

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Das Naheliegende, Nächstliegende ist, an die Zukunft zu denken nach den Atombombenschlägen auf Mitteleuropa. Es wäre eine völlige Augenauswischerei, da wegzusehen. Das wäre schändlich. Das ist „ruchloser Optimismus" (ein Wort Schopenhauers), der mit einem ernsten, pneumatischen, geisterfüllten Optimismus nichts zu tun hat...

Ich behaupte aber nicht, daß die Frage eigentlich so laute: Warum kommt ein Atomkrieg? Sondern: Kommt ein Atomkrieg? Denn es liegt mir völlig fern, in diesen ganz gefährlichen, ja verbrecherischen Slogan miteinzustimmen: Es muß ein dritter Weltkrieg kommen! Das ist schon direkte Kriegsmache...

Ich sage nicht: Der dritte Weltkrieg muß kommen. Nein! Nein! Ich sage nur dies: Es liegt, nüchtern besehen, nahe, daß es in absehbarer Zeit zu einem „Schlagabtausch" — ein scheußliches Wort — kommen wird...

Also: Atomschläge in Zentraleuropa. Ende dieser europäischen Zivilisation in ihrem Kernland. Nun würden Historiker und Betrachter in den überlebenden Kontinenten kommen und ausrechnen, was alles diese europäische Zivilisation an Schulden, Verschuldungen, todsündig eingebracht hat, um es so weit gebracht zu haben: Dekadenzen am laufenden Bande.

Ich denke im Moment an einige Zahlen: 10.000-Dollar-Partys dort, 100.000-Schilling-Partys da in Wien. Für wenige Stunden hinausgeschmissenes Geld einer verhurten Gesellschaft.

Ich betone das Wort „verhurt". Ich meine damit nicht kleine Bettgeschichten. All dieses Geld hinausgeschmissen von einer seelisch verhurten Showpartygesellschaft. Menschen, die kalten Herzens, in einer Eiszeit des Herzens, überhaupt keinen Blick für einen anderen Menschen haben außer für ihre ganz geschlossene Gesellschaft, in der sich jeder zu Tode saufen kann___

Das apokalyptische Ende dieser europäischen Zivilisation aber trifft Menschen, die in keiner Weise auf einen Nenner zu bringen sind und nicht vereinnahmt werden sollten durch Pauschalverurteilungen, wie sie über die sterbende Antike, das sterbende Griechenland und andere Zivilisationen getroffen wurden. Der innere Reichtum, heute vor dem Tag X, ist viel, viel größer als in der Spätantike ...

Ich plädiere — und das ist keine Ausrede — für eine heilige Allianz, eine Entente cordiale, jener eineinhalb bis zwei Prozent Menschen, die in allen lebenden Generationen, auch in Österreich, in allen Berufen, in allen Tätigkeitsformen das sind und durchaus zukunftsoffen im besten Sinn des Wortes sind.

Ich kann nicht sagen, daß etwa Universitätsprofessoren Zukunftsmenschen sind. Ich kann nicht sagen, daß Ärzte, Ingenieure und reine Naturwissenschafter Zukunftsmenschen sind. Und ich kann vor allem nicht sagen, daß Lehrer Zukunftsmenschen sind, die j a soviel gute Zukunft abtöten, indem sie Zugvögel der Zukunft, nämlich sehr lebendige Kinder, innerlich ruinieren und Glaube, Hoffnung und Liebe töten.

Ich kann nicht sagen, daß in irgendeinem Beruf, und seien es Straßenbahner, Theologen, Ingenieure oder Ärzte, ein besonders hoher, auffallender Prozentsatz von zukunftsoffenen Menschen, seelisch in gutem Sinne zukunftsoffen, unruhigen Elementen, präsent ist, die bereit sind „to pay the cost", heute Kosten zu bezahlen für1 eine Änderung der Verhältnisse.

Die meisten Menschen leben vielfach so eingezwängt in die harten Zwänge ihres Tages, daß sie nicht „dazukommen". Es gibt eben leider keine soziologischen Gruppierungen, die diesen Erfolg garantieren.

Klubs können sehr viel bedeuten. Ich denke zum Beispiel an den Klub der zwölf Apostel. Ich drük-ke mich absichtlich und ganz bewußt so aus. Der Klub der zwölf Apostel Jesu und der Klub der Jakobiner und andere Klubs haben sehr geschichtsmächtig gewirkt.

Es fehlt bei uns leider diese Mentalität: Der Wille, mit ganz anderen Menschen aus anderen Berufen zusammenzukommen.

Und trotz all diesen düsteren Aussichten kann vor den zu erwartenden Atomschlägen, wie gesagt, noch allerhand Gutes passieren an Wachstümern, die hier in diesen verfallenen Zivilisationen und andernorts von Australien bis Japan und von Peking bis Rio de Janeiro und Mexiko zu beobachten sind und die ihrerseits wieder Wachstümer anregen.

Ich bitte, das nicht als ein falsches Happy-End aufzufassen. Ich meine das ganz nüchtern. In vielen unübersehbaren, unabsehbaren Wachstümern werden wesentliche Elemente unserer europäischen Zivilisation weiterleben in Verwandlungsformen, so wie das Leben und die frohe Botschaft des jungen Juden Jesus aus Galiläa sich verwandeln lassen mußte, tausend-fältig in 2000 Jahren Abendland.

Auszugsweise aus: AUSGESPROCHEN. Von Friedrich Heer. Böhlau, 1983, 98 S., Paperback, öS 120,-.

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