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Das Ende unserer biologischen Evolution?

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Der Hirnforscher und Nobelpreisträger Sir John Eccles sieht in der Unmöglichkeit, das Geheimnis des menschlichen Selbst-Bewußtseins materialistisch zu erklären, einen Beweis für den göttlichen Ursprung des Menschen. Wir bringen einen Auszug aus seinem neuesten Buch über die Evolution des Gehirns.

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Der Hirnforscher und Nobelpreisträger Sir John Eccles sieht in der Unmöglichkeit, das Geheimnis des menschlichen Selbst-Bewußtseins materialistisch zu erklären, einen Beweis für den göttlichen Ursprung des Menschen. Wir bringen einen Auszug aus seinem neuesten Buch über die Evolution des Gehirns.

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Biologische und kulturelle Evolution haben einiges miteinander gemein, zum Beispiel müssen beide auf Herausforderungen der Umwelt antworten. Eine erfolgreiche Antwort hängt davon ab, daß eine Auswahl aus einem Vorrat an Mannigfaltigkeit möglich ist. Für die biologische Evolution besteht die Mannigfaltigkeit im Genpool oder Genbestand. Die kulturelle Evolution greift zurück auf die Welt 3 (im Sprachgebrauch von John C. Eccles und Karl Popper die Welt des kulturellen Erbes und der theoretischen Systeme, Anm. d. Red.) mit ihren kulturellen Variationen, den Kulturbestand oder Kulturpool.

Die Gesellschaft hat sich im Laufe der kulturellen Evolution von den primitiven Anfängen eines irrationalen oder instinkthaften Zusammenschlusses von Hominiden zu einer hochorganisierten, von Werten geleiteten Struktur entwickelt. Die biologische Evolution hat die menschlichen Genotypen geschaffen, die menschliche Gehirne ausbilden, welche wiederum Neigungen zum Erlernen von Sprachen, zu altruistischem Verhalten und zu allen übrigen Kulturaktivitäten besitzen, wozu wohl auch die Wertsysteme gehören, die die Gesellschaft formen und lenken. Die biologische Evolution hat die Strukturen (Gene) geschaffen und beruht auf deren Rolle in der genetischen Vererbung. Die kulturelle Evolution beruht auf den kulturellen Leistungen der Hominiden und ist nicht im geringsten genetisch codiert, denn das würde Lamarckismus bedeuten (Lamarck meinte, daß erworbene Eigenschaften durch Vererbung weitergegeben werden können, Anm. d. Red).

Sie wird ganz und gar durch Unterrichtung und Lernen weitergegeben. Es gibt keine Gene für Sprache, sondern nur für die Sprachregionen, die es ermöglichen, irgendeine menschliche Sprache zu erlernen. Elemente wie Denken, Fühlen, Gedächtnis, Vorstellung, Aufmerksamkeit, die zum Inneren Sinn von Welt 2 (Welt der Bewußtseins-zustände und des subjektiven Wissens, Anm. d. Red.) gehören, sind notwendig.

Werte sind wichtige Bestandteile von Welt 3. Der Kulturpool ist ein Spiegel unseres Wertesystems. Unter Werten kann man sich ganz einfach das vorstellen, was wir wertschätzen. Sie sind die Grundlage unserer Urteile und Entscheidungen,ob wir dies oder jenes tun. Jeder von uns besitzt eine Werteskala oder ein Wertesystem, das ihm nicht unbedingt bewußt sein muß, aber gleichwohl den Rahmen für unsere Entscheidungen darstellt; natürlich determiniert es nicht unser Handeln, sondern ist lediglich eine Bedingung. Solche Verhaltensregeln werden ebenso erlernt wie die Sprache.

Eine Neigung zur Sprache ist dem Gehirn eingebaut. In der biologischen Evolution entwickelten sich die ausgedehnten sprachlichen Felder des Neokortex, und sie sind bei der Geburt schon vorgeformt, ehe sie für die Sprache, die das Kind dann hört, benutzt werden. In der gleichen Weise ist dem Gehirn eine Neigung eingebaut, sich nach einem Wertesystem zu verhalten, und das Wertesystem, das als erstes erlernt wird, ist das der umgebenden Kultur.

Wie es rudimentäre Formen tierischer Kommunikation gibt, so gibt es auch* rudimentäre Formen sozialer Organisation, in denen die Verhaltensweisen teils auf Instinkt, teils auf Lernen beruhen. Wahrscheinlich war es die „Gesellschaft" unserer Primaten-Vorfahren, von der die Entwicklung der „Kultur" der ersten Hominiden ihren Ausgang nahm. Den Antrieb bildete vermutlich das Bedürfnis nach sozialem Zusammenhalt bei der organisierten Jagd, bei der Kriegsführung, beim Teilen der Nahrung und bei der Entwicklung der Geräteherstellung. Ein Beispiel ist die ganz allmähliche Entwicklung des Faustkeils über Hunderttausende von Jahren hinweg. Am wichtigsten dürfte aber wohl die allmähliche Verbesserung der sprachlichen Kommunikation gewesen sein, aus der sozialer Zusammenhalt und Verständigung erwuchsen.

Leider besteht bei „fortschrittlichen" Denkern die fixe Idee, sie müßten traditionelle Wertsysteme als überholt in Mißkredit bringen, vermutlich deshalb, weil diese eine religiöse Grundlage haben. Sie fühlen sich dazu aufgerufen, die traditionellen Werte durch eine Ethik zu ersetzen, die auf einem wissenschaftlichen Rationalismus oder auf einer mehr evolutionären Grundlage beruht. AH diese Wertsysteme sind charakterisiert durch eine materialistische Grundhaltung, die freilich nicht immer offen zutage tritt. Es ist bedauerlich, daß unser traditionelles Wertsystem durch materialistische Vorurteile durcheinandergebracht oder, wie im Falle Monod, durch dogmatische materialistische Behauptungen verdrängt wurde.

Die biologische Evolution der Hominiden hat ihren Gipfel erreicht. Natürlich wird es weiterhin Mutationen des menschlichen Genoms geben, und in der riesigen Weltbevölkerung werden diese sehr viel häufiger sein. Die überaus folgenreiche genetische Veränderung, aus der der Homo sapiens sapiens hervorging, hat sich vermutlich in einer weltweiten Homi-nidenpopulation von vielleicht zwei Millionen ereignet. Die Zahl der Menschen ist inzwischen mehr als zweitausendmal so groß. Doch wenn es Mutationen gibt, werden sie zwangsläufig in dem riesigen Genpool verdünnt. Angesichts der Kommunikationsdichte in der heutigen Welt besteht keine Aussicht, daß ein kleines peripheres Isolat sich über viele Generationen hinweg fortpflanzen könnte, nämlich über Hunderttausende von Jahren, wie es in der Hominidenevolution der Fall war.

Im übrigen ist es heute das Ziel aller Gesellschaften, das Überleben aller ihrer Angehörigen durch Wohlfahrt und Gesundheitsfürsorge zu sichern. Eine Rückkehr zu einer Politik der natürlichen Selektion, in der nur der Tauglichste überlebt, ist undenkbar. Gegenwärtig besteht sogar euie Tendenz zum Gegenteil, da die unteren Gesellschaftsschichten eine höhere Reproduktionsrate haben. Vielleicht kommt jemand auf die verzweifelte Idee, ein selektives Züchtungsprogramm einzuleiten, wie es Hitler vorschwebte, um eine arische Rasse zu züchten. Für die Zucht von Haustieren ist ein solches Programm sehr geeignet, doch um es bei den Menschen durchzusetzen, müßte eine Diktatur über Hunderte von Jahren hinweg Zuchtanstalten betreiben. Wir können also erwarten, daß eine weitere biologische Evolution von Hominiden nicht mehr möglich ist. Das sollten die Evolutionisten einsehen und auch öffentlich erklären, um dem ideologischen Vormarsch von Verfechtern einer wissenschaftlichen Fiktion entgegenzutreten.

Die kulturelle Evolution unterliegt dagegen nicht einer solchen biologischen Beschränkung. Ihre Zukunft ist allein von der Kreativität der Menschen abhängig. Ein historischer Überblick zeigt, daß von einer kontinuierlichen Gesamtentwicklung aller Komponenten von Welt 3 keine Rede sein kann. Über dieses Thema ließe sich trefflich streiten! Es sind Zweifel daran erlaubt, ob das menschliche Gehirn auf neuen esoterischen Gebieten Kreativität zu entwickeln vermag. Das große Wunder ist jedoch, daß der konkrete Prozeß der Hominidenevolution menschliche Gehirne entstehen ließ, die Anlagen besitzen, wie sie für das Überleben der ersten Mitglieder der Art Homo sapiens sapiens gar nicht erforderlich waren. Man denke nur an die Wunder der Mathematik und der Musik.

Unsere Gegenwart tut sich hervor in der Bewahrung von Kulturerzeugnissen. Museen und Bibliotheken entfalten sich wie nie zuvor und leisten Hervorragendes, was die kritische Bewertung angeht. Dank der Möglichkeiten optischer und akustischer Aufzeichnung und Wiedergabe sind im übrigen der Bewahrung von künstlerischen Produktionen keine Grenzen gesetzt Doch schon die bloße Masse des angehäuften Material s kann Zweifel in einem aufkommen lassen, wenn man sich einmal in die ferne Zukunft des Planeten Erde versetzt, der auch in 1.500 Millionen Jahren noch die Sonne umkreisen und sich genau wie heute an ihrer Strahlung wärmen wird! Dabei übersteigt schon der Versuch, sich die Situation der wissenschaftlichen Literatur auch nur für einige hundert Jahre im voraus auszudenken, unser Vorstellungsvermögen.

Aus: „Die Evolution des Gehirns - Die Erschaffung des Selbst" von John S. Eccles. Piper Verlag, München. 450 Seiten, Ln., öS 374,40.

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