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Das Erbe der Entideologisierung

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Norbert Leser, Ordinarius für Politikwissenschaft in Salzburg, ließ mit seiner Rede auf dem letzten Parteitag der SPÖ nicht nur die Delegierten im Saale aufhorchen. Leser, loyal seiner politischen Gesinnung und loyal seinem Lehrauftrag, stellte nämlich die große Malaise des derzeitigen Parteienwesens in Österreich bloß: Den Relativismus der sogenannten Erfolgsgeneration der sechziger Jahre, für die in der Politik nichts erfolgreicher ist als der Erfolg hic et nunc. Und die Versuche jener Integralisten in der Politik, die die traditionelle Gesinnungsgemeinschaft einer Partei in einem Skelett der Dogmen erstarren lassen. Auf dem Parteitag der SPÖ haben andere Grundsatzrefera'te wohl mehr Beifall bekommen als das des Universitätsprofessors Leser. Um der Demokratie in Österreich willen sollte man hoffen, daß Lesers Stimme den Chor derer in Österreich verstärken möge, die, vorläufig mit mäßigem Echo, darauf hinweisen, daß das österreichische Parteienwesen an sich sowie dessen Fittings zu Parlamentarismus und Demokratie in keinem guten Zustand sind.

Was Leser auf einem Parteitag in der Kavalkade der Diskussionsbeiträge vorgetragen hat, das ist nunmehr fixiert in einem Band, der dem Leser die Situation des Politischen im Spannungsfeld zwischen Relativismus und Dogmatismus aufzeigt. Personifiziert hat Leser die Situation an den Brennpunkten dieses Feldes mit der Nennung der Namen Karl Marx und Hans Kelsen. Was Marx anlangt, so hat Leser bereits in seinem Werk „Die Odyssee des Soziallismus“ verlautet, Marxens Erwartung, der Sozialismus werde in den fortgeschrittenen Industriestaaten siegen, sei nicht in Erfüllung gegangen. In der vorliegenden Sammlung von Aufsätzen legt er die Sonde auch an Kelsens Reine Rechtslehre, die gerade in Salzburg unter dem Einfluß von Rene Marcic eine Einfluchtung bis in gewisse Vorfelder theologischer Denkvorstellungen erfahren hat. Lesers Aufgabe setzt an dem Punkt ein, wo Kelsen seiner Reinen Rechtslehre eine gredachte Norm, also keine gewollte Grundnorm unterlegen möchte. Kelsen, der angesichts des bolschewikischen Terrors der zwanziger Jahre die gewollte Grundnorm der den Kommunismus mehrheitlich bejahenden Wähler dennoch respektieren wollte, geriet letzten Endes trotz seiner Rechtfertigung des Hitlerismus von 1933 in Zweifel, ob eine derartige Ultima ratio seiner Reinen Rechtslehre aufrechterhalten werden könne.

Die Stunde des Zweifels schien die Stunde der Wahrheit für gewisse Dogmatiker zu sein, die — aus jüngster Verdunkelung hervortretend — dem Politischen das Nessushemd ihrer Ansicht von einer meta-politi-schen Verankerung der Politik überziehen möchten. Der Standpunkt Lesers zwischen dam aktuellen Relativismus der Technokraten und dem Dogmatismus fragwürdiger „Grundsatzpolitiker“ ist zweifellos deswegen prekär, weil ihm nicht wenige den Vorwurf anhängen möchten, er sei Eklektizismus. Leser bezieht derlei Vorwürfe von heutigen meinen, dem Dilemma, das Kelsen traf, sicher aus dem Weg zu gehen. ;

Mit dem vorliegenden Buch ist Leser einige Schritte weiter in die Furt gegangen, an deren anderem Ufer viele Menschen eine Welt jenseits von Marxismus und Kapitalismus erhoffen.

Mag man in diversen Parteischulen andere Lehrgebäude errichten. Wer nicht beim bloßen Anti-Marxismus stehenbleiben will wer die aktuellen Gefahren eines Sowjetdogmatismus erkennt und ihnen widerstreben Will, darf einem Sozialismus, wie ihn Leser versteht, nicht aus dem Weg gehen. Weil Leser den Monismus, der im dogmatischen Marxismus nach Ideen des 19. Jahrhunderts steckt, grundsätzlich ablehnt, und sein Pluralismus ein solcher ist, daß er den in diesem Punkt gewarnten Katholiken diskutabel wird. Damit könnte am Ende des Zeitalters eines flatternden Dialogismus wieder jene geordnete Gesprächssituation in Gang kommen, 'die man in der Ära der Einparfeien-regierungen fälschlicherweise für entbehrlich hält. Lesers Buch ist ein klimatischer Erholungsraum des Politischen. Und das Politische der freien Welt ist krank, bedarf der Rekonvaleszenz.

SOZIALISMUS ZWISCHEN RELATIVISMUS UND DOGMATISMUS. Von Norbert Leser. Aufsätze im Spannungsfeld von Marx und Kelsen, Rombach, Freiburg 1974, 226 Seiten.

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