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Das Erbe der Wahlmonarchie

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Die zahlreichen Persönlichkeiten, die am 9. November 1972 mit Ministerpräsident Messmer im Invalidendom einer Erinnerungsmesse zur zweiten Wiederkehr des Todestages General de Gaulies beiwohnten, erinnerten sich wohl der eindrucksvollen Feierlichkeiten in Notre-Dame vor zwei Jahren. Damals trafen sich die Großen dieser Welt, um eines der Größten des 20. Jahrhunderts zu gedenken: der amerikanische Präsident Nixon und das nominelle Staatsoberhaupt der Sowjetunion, Pod-gorny, der abessinische Kaiser und der persische Schah, der belgische König, die Bundespräsidenten Deutschlands und Österreichs und die Repräsentanten der Dritten Welt.

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Die zahlreichen Persönlichkeiten, die am 9. November 1972 mit Ministerpräsident Messmer im Invalidendom einer Erinnerungsmesse zur zweiten Wiederkehr des Todestages General de Gaulies beiwohnten, erinnerten sich wohl der eindrucksvollen Feierlichkeiten in Notre-Dame vor zwei Jahren. Damals trafen sich die Großen dieser Welt, um eines der Größten des 20. Jahrhunderts zu gedenken: der amerikanische Präsident Nixon und das nominelle Staatsoberhaupt der Sowjetunion, Pod-gorny, der abessinische Kaiser und der persische Schah, der belgische König, die Bundespräsidenten Deutschlands und Österreichs und die Repräsentanten der Dritten Welt.

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Ende 1972 wird der Gründer der V. Republik immer noch zitiert. Regime und Partei bekennen sich zu seinem Werk. Die Nation weiß um die Verdienste eines Mannes, der dem geschlagenen Land 1940 neue Hoffnungen schenkte. Ist aber dieses Frankreich noch „gaullistisch“ zu nennen? Oder veränderte Pompi-dous Herrschaft das Antlitz des Staats und der Gesellschaft seit 1969? Eine Antwort ist nur dann möglich, wenn man sich mit dem jetzigen Stand der in unmittelbarem Zusammenhang mit de Gaulle stehenden Einrichtungen, Ideen und Personen beschäftigt.

Die 1958 ins Leben gerufenen Institutionen bewiesen ihre Stabilität, ja sie zeigten eine fast zu große Stabilität. Mit Recht wies kürzlich einer der besten Kenner der französischen Innenpolitik — der Chefredakteur von „Le Monde“, Pierre Viansson-Ponte — auf den Umstand hin, daß die Bürger trotz diverser Regional-und Legislativwahlen sowie eines Referendums eigentlich nur einen einzigen Akt von einschneidender politischer Willensbildung ausführen: alle sieben Jahre wird der Präsident der Republik gewählt. Während seiner Amtszeit inkarniert er die gesamte Legitimität und Legalität des Staats. Die Tendenz zur Wahlmonarchie hat sich überaus akzentuiert. Das Schicksal von Cha-ban-Delmas beweist diese Feststellung. Im Frühjahr erhielt er, der erste Ministerpräsident unter Pom-pidou, noch einen überwältigenden Vertrauensbeweis des Parlaments. Der Staatspräsident zwang ihn trotzdem zur Demission. Und sein Nachfolger, Pierre Messmer, fand es nicht der Mühe wert, sich der Kammer zu einem Vertrauensvotum zu stellen.

Auf der anderen Seite hatte de Gaulle nie eine Polarisierung des politischen Lebens verlangt oder erwartet. Nach dem dramatischen Mai des Jahres 1958 berief er in sein erstes Kabinett christlich-demokratische und sozialistische Minister. Er selbst wünschte eine Koalition. Sie sollte von der gemäßigten Rechten bis zu den Sozialisten reichen. Aber die zu seinen Lebzeiten einsetzende Polarisierung — hier die Majorität, um eine starke Mehrheitspartei gruppiert, dort eine einzige Opposition mit dem Rückgrat einer wohlorganisierten kommunistischen Partei — wurde unter Pompidooi vorangetrieben. Dieser Prozeß wird durch das eigenartige Wahlsystem der

V. Republik unterstrichen (kleine Wahlkreise, zwei Wahlgänge, wobei der Kandidat im ersten Wahlgang die absolute, im zweiten Wahlgang die relative Mehrheit erhalten muß).

Die Innenpolitik ist vor allem unter zwei Phänomenen zu verstehen: überragende Stellung des Staatsoberhauptes und Bildung homogener, durch die Stichwahl bedingter Koalitionen. Unter diesem Zwang ist auch die Allianz der sozialistischen mit der kommuraistisehen Partei zu begreifen. Ohne Zweifel wird dadurch die Alternative einer linken Mitte (Lecanuet und Servan-Schreiber) empfindlich behindert.

Obwohl General de Gaulle, der Prototyp eines politischen Pragmatikers war, schwebten ihm doch gesellschaftliche und sozialpolitische Visionen vor. Wir denken an sein Konzept einer begrenzten Föderalisie-rung des zentralistischen Staats und einer Partizipierung der Bürger an der Gemeinde- und Regionalverwaltung sowie in den Betrieben. Von diesen Forderungen blieb wenig beziehungsweise fast nichts mehr übrig. Einer der engsten Berater und Vertrauten de Gaulles, der langjährige Sozialminister Jean-Marcel Jeanneney, verließ schon vor einem Jahr die gaullistische Partei UDR. Anfang November 1972 trat er der Reformbewegung bei, da er den konservativen Kurs der Sammelpartei nicht mehr billigen konnte. In der Tat schob Premierminister

Messmer die Pläne einer neuen Gesellschaft von Chaban-Delmas beiseite. Diese hatten sich eng an die Theorien de Gaulles angelehnt. In den letzten Monaten löste eine neue Generation junger, energischer, aber kühler Verwaltungsbeamten die alte Phalanx der Gaullisten ab. Diese „Barone der Bewegung“ (wie sie genannt wurden), also Couve de Mur-ville, Malraux, Fouchet und viele mehr, mußten in den Hintergrund treten. Sie verloren fast jeden politischen Einfluß. Nur Armeeminister Michel Debr6 konnte seine Position noch halten. Die Vermutungen verdichteten sich jedoch mehr als einmal, er werde in absehbarer Zeit ebenfalls die Gruppe der gaullistischen Kämpfer a. D. vermehren.,

Die jungen Männer stammen zum großen Teil aus der selekten Verwaltungsakademie. Zum traditionellen Gaullismus haben sie keinerlei sentimentale Bindungen. Hier wächst eine Führungsschicht des Staats heran, der die gaullistische Epopöe genausoviel oder genausowenig bedeutet wie die Epoche Ludwigs XIV., die Große Revolution oder das Napoleonische Kaiserreich. In ihren vielfach durch die angelsächsischen Methoden beeinflußten Ausdrücken verleihen sie der Gesellschaft einen technokratischen Charakter im Stil des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Diese Staatssekretäre, Kabinettchefs und Experten in den Ministerien kümmern sich kaum um eine ideologische Ausrichtung der Politik. Allerdings denken sie in den weiten Dimensionen der großen Wirtschaftsräume von morgen.

Damit wurde auch der letzte Punkt im Erbe de Gaulles augenscheinlich überholt. Die europäische Gipfelkonferenz im Oktober 1972 bestätigte, was Eingeweihte der französischen Diplomatie schon lange wissen: Der von General de Gaulle symbolisierte Nationalismus, das Europa souveräner Staaten, trat zugunsten moderner und weitsichtiger Auffassungen zurück. Diskussionen mit dieser jungen Führungsschicht über das „Europabild“ überraschen angenehm. Sofern keine unerwarteten Momente eintreten, wird Paris die Aktivitäten der erweiterten EWG-Kommission in Brüssel fördern. Bezeichnenderweise fand Pompidou in einem seiner engen Vertrauten, dem früheren Finanz- und Wissenschaftsminister Ortoli, den vermutlichen Nachfolger von Sicco Mansholt. Er würde den Erwartungen der Pariser Ministerien nachkommen und eine europäische Währung, eine gemeinsame Wirtschaftsfront gegenüber den USA bilden.

Für diese Entwicklung ist nichts symptomatischer als die Interviews und Kommentare des schon zitierten Ministers Jeanneney. Er muß die innersten Gedanken General de Gaulles gut gekannt haben, denn auf einmal tritt er ostentativ für ein integriertes Europa und für die Direktwahl eines Europäischen Parlaments ein. Dabei fügit er hinzu, de Gaulle habe schon 1950 diese Möglichkeiten erwogen und wäre in Abwägung der heutigen Weltlage der internationalen Machtverhältnisse selbstverständlich bereit, diesen letzten Schritt zur europäischen Union zu wagen. Übrigens prophezeite der Gründer der Paneuropa-Idee, Coudenhove-Kalergi, mehrere Male diese Entwicklung des gaullistischen Denkens.

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