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Das Erbe des „Vaters Europas“

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Als am 13. Mai 1958 ein Putsch in der damaligen französischen Provinz Algerien ausbrach und sich die,weißen Siedler sowie Teile der Armee gegen die legale Regierung in Paris auflehnten, fanden findige Reporter heraus, daß 13 verschiedene Verschwörungen und Komplotte diese Revolte vorbereitet hatten. Mögen es einige mehr oder weniger gewesen sein — die 13 Verschwörungen des 13. Mai sind ein Bestandteil des historischen Denkens der Nation geworden. Durch die Vorfälle in Nordafrika wurde das Regime der verfassungsgebenden Versammlung gebrochen. General de Gaulle vermochte im letzten Augenblick einen Bürgerkrieg zu verhindern. Er beseitigte die Verfassung der IV. Republik. Ein objektiver Beobachter der Innen- und Außenpolitik, die Frankreich zwischen 1946 und 1958 betrieb, wird gewiß auch viele positive Seiten an den 25 Regierungen der IV. Republik finden. Doch vermochten die Parteien, die zur Kabinettsbildung aufgerufen worden waren, die blutigen Kriege in den überseeischen Gebieten nicht zu verhindern. Auch das schwierige innenpolitische Problem der staatlichen Subventionen an die katholischen Privatschulen konnte nicht gelöst werden. Diese an sich zweitrangige Frage vergiftete die Beziehungen zwischen den beiden Hauptträgern der politischen Verantwortung vor der Machtübernahme durch General de Gaulle. Die christlichen Demokraten des MRP und die Sozialisten konnten sich trotz mancher Übereinstimmung in dem einen Punkt nicht einigen.

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Als am 13. Mai 1958 ein Putsch in der damaligen französischen Provinz Algerien ausbrach und sich die,weißen Siedler sowie Teile der Armee gegen die legale Regierung in Paris auflehnten, fanden findige Reporter heraus, daß 13 verschiedene Verschwörungen und Komplotte diese Revolte vorbereitet hatten. Mögen es einige mehr oder weniger gewesen sein — die 13 Verschwörungen des 13. Mai sind ein Bestandteil des historischen Denkens der Nation geworden. Durch die Vorfälle in Nordafrika wurde das Regime der verfassungsgebenden Versammlung gebrochen. General de Gaulle vermochte im letzten Augenblick einen Bürgerkrieg zu verhindern. Er beseitigte die Verfassung der IV. Republik. Ein objektiver Beobachter der Innen- und Außenpolitik, die Frankreich zwischen 1946 und 1958 betrieb, wird gewiß auch viele positive Seiten an den 25 Regierungen der IV. Republik finden. Doch vermochten die Parteien, die zur Kabinettsbildung aufgerufen worden waren, die blutigen Kriege in den überseeischen Gebieten nicht zu verhindern. Auch das schwierige innenpolitische Problem der staatlichen Subventionen an die katholischen Privatschulen konnte nicht gelöst werden. Diese an sich zweitrangige Frage vergiftete die Beziehungen zwischen den beiden Hauptträgern der politischen Verantwortung vor der Machtübernahme durch General de Gaulle. Die christlichen Demokraten des MRP und die Sozialisten konnten sich trotz mancher Übereinstimmung in dem einen Punkt nicht einigen.

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Der Erfolg des Regimes lag in der Ausarbeitung einer konstruktiven Buropapolitik. Studiert man die Geschichte eines Aktes, der als revolutionär zu werten ist, muß man dabei unwillkürlich an eine Verschwörung denken, die von einigen Männern inszeniert wurde, um die Phantasie der öffentlichen Meinung anzuregen und einer solchen Vision kontinentale Dimensionen zu verleihen. Generali de Gaulle hat einmal den eigentlichen Urheber dieser Politik, den Wirtschaftsexperten Jean Mon-net, als den .Anstifter“ aller Versuche, Europa wirtschaftlich und politisch zu integrieren, bezeichnet Jean Monnet und seine Mitarbeiter Hirsch und Uri haben, gemeinsam mit dem juristischen Berater des französischen Außenministeriums Paul Reuter, den Entwurf der Erklärung neunmal umgearbeitet. Sie wurde vom Chef der französischen Diplomatie, Robert Schuman, am 9. Mai 1950 um 18 Uhr im Uhrensaal des Quai d'Orsay 100 Journalisten mit monotoner Stimme vorgelesen. Das Geheimnis war so gut gehütet worden, daß man sogar vergaß, einen Photographen einzuladen oder die Ansprache Schumans auf Band aufzunehmen. Alle später publizierten Photos dieser Pressekonferenz sind nicht authentisch und wurden nachgestellt.

Von der Regierung waren lediglich zwei Minister im Bilde, die sich als überzeugte Europäer mit sämtlichen Aspekten der kontinentalen Einigung beschäftigten. Es waren dies Rene Pleven und Rene Mayer. Der damalige Regierungschef Georges Bidault kümmerte sich wenig um den, Vorschlag und hatte die diesbezüglichen Dokumente, die ihm Jean Monnet kurz vorher zuleitete, nicht einmal gelesen. Der einstige Chef des obersten Rates der französischen Widerstandsbewegung und Gegenspieler General de Gaulles galt als ein eher lauer Europäer. Er sah die Zukunft seines Landes in einer engen Bindung an eine atlantische Gemeinschaft und in einer intimen Zusammenarbeit mit den USA. In dieser Politik wurde er von einem jungen Journalisten der angesehe-henen Abendzeitung ,Xe Monde“ unterstützt. Der junge Mann hat inzwischen Karriere gemacht und gibt jetzt ebenfalls dem amtierenden Staatspräsidenten Gisoard d'Estaing Ratschläge. Er heißt Jean Jacques Servan-Schreiber.

Mögen die ersten Ideen zur Bildung einer hohen internationalen Behörde von einigen Technokraten ausgearbeitet worden sein, so trug doch Außenminister Robert Schuman vor der Nation, den politischen Parteien und dem Parlament die alleinige Verantwortung hiefür. So sagte er einmal lächelnd zum Verfasser dieses Beitrages: „Ich habe mich in diesen Tagen und Wochen wie der berühmte Reiter auf dem zugefrorenen Bodensee gefühlt.“ Mit Recht erhielt der Plan, die Kohle- und

Stahlindustrie Deutschlands und Frankreichs, sowie einiger anderer westeuropäischer Staaten gemeinsam zu verwalten, den Namen dieses großen Franzosen. Nachdem der Alt-Gaullismus Jahre hindurch versucht hatte, die Tat Robert Schumans in Vergessenheit geraten zu lassen (als der Vater Europas starb und Bundeskanzler Adenauer ihm das letzte Geleit geben wollte, wurde starker diplomatischer Druck ausgeübt, um ihn vom Begräbnis fernzuhalten), wurde in der veränderten

Atmosphäre des Regimes Giscard d'Estaing der 25. Jahrestag im Uhrensaal des Quai d'Orsay feierlich begangen. Der deutsche Bundespräsident Walter Scheel, der gerade eine Staatsvisite in Frankreich absolvierte, ließ es sich nicht nehmen, durch seine Anwesenheit bei der Feier die Dankbarkeit des deutschen Volkes zu dokumentieren. Es gehörte wirklich außergewöhnlicher Mut dazu, fünf Jahre nach Kriegsende der eben entstandenen Bundesrepublik die Hand zur Freundschaft zu reichen und von gleichen Rechten und Pflichten zu sprechen.

Betrachten wir die politische Landschaft Europas zum Zeitpunkt als alles anfing: Der kalte Krieg, ausgelöst durch das imperialistische Machtstreben Stalins, drohte jederzeit in einen bewaffneten Konflikt auszuarten. Die Westmächte, die sich im NordaÜantischen Verteidigungsbündnis einen Schild geschaffen hatten, verfügten in Europa über ungefähr 200.000 schlecht ausgerüstete Soldaten und 1000 Flugzeuge. Das militärische Potential der Sowjetunion, gemeinsam mit den Satellitenstaaten, dürfte zehnmal mehr betragen haben. In Paris rechnete man mit einer Verschärfung der Spannung zwischen Ost und West. Die Vermutungen wurden durch die internationalen Ereignisse bestätigt. Der Koreakrieg brach aus und die angelsächsischen Mächte hatten mehrfach den Wunsch geäußert, das deutsche Volk möge an der Verteidigung des Westens partizipieren. Damit wurde

das Problem der Wiederbewaffnung Deutschlands aufgeworfen, ein Schreckgespenst für die französische Diplomatie. Diese wiederum zeigte sich nach Kriegsende nicht sehr ideenreich. Aus der Mottenkiste der Geschichte wurden Vorschläge hervorgeholt, die eines Konzeptes Kardinal Richelieus würdig gewesen wären. Selbst der sonst weitsichtige General de Gaulle beharrte noch auf seinen bisherigen Vorstellungen. Unter solchem Einfluß verlangten die Christdemokraten des MRP die Abtrennung der Saar von Deutschland und ihre Eingliederung in den französischen Wirtschaftsraum samt einer internationalen Kontrolle der Ruhr. Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches, aber auch schon lange vorher, waren in Paris Pläne entwickelt worden, aus Bayern und Österreich ein süddeutsches König-

tum unter einem Habsburger zu schaffen. Die französischen Staatsmänner und Diplomaten schauten wie hypnotisiert auf den wirtschaftlichen Aufstieg Deutschlands, der sich bereits 1948/49 abzuzeichnen begann. Obwohl die Besatzung Frankreichs durch die Truppen des Dritten Reiches hart gewesen war, entstand nach 1944/45 nicht jener Haß gegen Deutschland, den die Historiker nach dem Ende des Ersten Weltkrieges vermelden mußten. Die zurückgekehrten französischen Kriegsgefangenen spielten in der öffentlichen Meinung ihres Landes eine nicht zu unterschätzende mäßigende Rolle. Aber die IV. Republik wollte sich mit einer Bewaffnung der Bundesrepublik oder mit der Aufstellung deutscher Armeeinheiten nicht einverstanden erklären. Für den 10. Mai 1950 war in London eine Außenministerkonferenz der drei Westmächte anberaumt, der eine Tagung des obersten Rates der Nordatlantischen Verteidigungsgemeinschaft folgen sollte. Einige Monate vorher hatte der amerikanische Außenminister Dean Acheson seinen Kollegen Robert Schuman aufgefordert, konstruktive Vorschläge hinsichtlich einer neuen Deutschlandpolitik auszuarbeiten. Die Franzosen wußten zu genau, daß ihr ständiges „Non“ auf die Dauer den angelsächsischen Argumenten nach Eingliederung der Bundesrepublik nicht standhalten konnte. Dazu kamen zahlreiche jenseits des Rheins entwickelte Vorschläge, um die Erb-

feindschaft zwischen den beiden wichtigsten Völkern des westlichen Europa zu beseitigen. So trug der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfaäen, Karl Arnold, am 1. Jänner 1949 die Idee vor, die einseitige Kontrolle der Ruhr durch eine internationale kooperative Gesellschaft zu ersetzen. Deutschland, Frankreich, die Saar und Luxemburg, schließlich auch Belgien, sollten ihre Schwerindustrie in die Ruhrbehörde eingliedern. Zu Beginn des Jahres 1950 regte Bundeskanzler Adenauer mehrfach die Gründung einer deutsch-französischen Union an. Der Verfasser dieser Studie erinnert sich eines längeren Gesprächs, das der damalige Zonenvorsitzende der CDU mit ihm während des ersten Buropakongresses im Mai 1948 in Den Haag führte. Der spätere Kanzler der Bundesrepublik hatte damals Pläne, die im wesentlichen konform gingen mit den Überlegungen, die dem Chef der französischen industriellen Planungsbehörde, Monnet, vorschwebten. Der Präsident der CDU nutzte mehrmals Gelegenheiten, um mit Georges Bidault streng geheim in Genf zu konferieren. Unter dem Deckmantel einer karitativen Organisation bestand in der Stadt Calvins ein Verbindungsbüro der christdemokratischen Parteien, um besonders die Mitarbeit der Bundesrepublik am werdenden Europa zu erleichtern. Die christlichen Demokraten, nach Kriegsende in sechs Staaten im Besitz der absoluten parlamentarischen Mehrheit, hatten eine Art von politischer Mystik entwik-keflt und sahen sich veranlaßt, eine konstruktive Europapolitik mit allen Mitteln zu fördern. Im Rahmen der offiziellen Tätigkeit der christdemokratischen Internationale NEI trafen sich die drei führenden Köpfe dieser Parteien: Robert Schuman, de Gasperi und Konrad Adenauer. Die genannten drei Großen waren Kinder der Grenze. De Gasperi war Abgeordneter in Wien gewesen und der in Luxemburg als Sohn eines lothringischen Zollinspektors geborene Robert Schuman hatte auf mehreren Universitäten diesseits und jenseits des Rheins studiert. Auch Konrad Adenauer, der Rheinländer, war mit dem Schicksal eines Grenzlandes durchaus vertraut. Sämtliche Versuche, eine europäische Integration in die Wege zu leiten, wurden durch zu starke theoretische Diskussionen gehemmt. Um so mehr muß daher die Initiative Schumans und Monnets hervorgehoben werden, die zum erstenmal den Kabinetten praktische Lösungen vorlegten. Wohl war es dank der Anstrengungen der europäischen Bewegung zur Gründung eines Europarates gekommen, aber das Straßburger Gremium hatte nur konsultative Befugnisse. Jahrzehntelang wurde der parlamentarischen Versammlung vorgeworfen, sie sei eine reine „Quatschbude“. Dieses Urteil ist nicht stichhältig. Durch einen ständigen Kontakt der Volksvertreter verschiedener Länder, die außerdem diversen politischen Parteien angehörten, wurde jenes Klima geschaffen, das es Robert Schuman erlaubte, seinen Plan in die Tat umzusetzen.

Der Außenminister, vertraut mit der Mentalität Frankreichs und Deutschlands (er war allerdings nie

deutscher Offizier gewesen, wie es ihm seine Gegner vorwarfen), stellte in den Mittelpunkt seiner Überlegungen den Willen, eine totale Aussöhnung zwischen der deutschen und französischen Nation zu erzielen. Natürlich lud er die Engländer ein, dieser zu bildenden Hohen Internationalen Behörde beizutreten. Aber im innersten seines Herzens mochte er mit einer Ablehnung seiner Vorschläge durch das Londoner Kabinett gerechnet haben. Sowohl er wie Jean Monnet waren große Realisten. Sie nahmen nicht an, die britische Arbeiterpartei, die die Regierung bildete, werde auch nur die geringsten britischen Souveränitätsrechte opfern. Aus gewissen Andeutungen darf geschlossen werden, daß Robert Schuman sein Konzept nur auf die Teilnahme der sechs Staaten aufgebaut hatte. Dagegen sprach er häufig von der Notwendigkeit einer engen Zusammenarbeit mit der im werden begriffenen französischsprechenden Staatenwelt des schwarzen Afrika. „Wenn es Europa nicht gelingt, diesen jungen Völkern zu helfen, so werden es die Russen tun und ein kommunistisches Afrika wäre das Ende des freien Europa.“

Die Urheber — oder bleiben wir bei dem altgauilistischen Wort die „Anstifter“ — des Schuman^Plans hatten weder das Parlament noch die Parteien, ja nicht einmal das Gesamtkabinett informiert. Die lothringische Stahlindustrie schrie entsetzt auf und sah die Vernichtung der eigenen wirtschaftlichen Plattform voraus. Gaullisten und Kommunisten stimmten in Kassandrarufe ein und beschuldigten den Außenminister des Hochverrats. Der sensible Lothringer hat fürchterlich unter den unzähligen persönlichen Angriffen gelitten, aber äußerlich nie seine Ruhe verloren. Das französische Parlament honorierte schließlich die Standfestigkeit und Überzeugungskraft eines Mannes, der bereite 1947 als Ministerpräsident die IV. Republik vor den in-surektionellen Streiks der Kommunisten rettete. Am 13. Dezember 1951 ratifizierte die Pariser Abgeordnetenkammer mit 337 gegen; 233 Stimmen die Verträge, die die Bildung einer Hohen Behörde zur gemeinsamen Verwaltung der Kohle- und Stahlindustrie von sechs Staaten vorsah. Robert Schuman wollte dieses Experiment niemals auf die Grundstoffindustrie beschränken. Er trat entschieden für eine politische und wirtschaftliche Union ein und sah als Ziel einen europäischen Bundesstaat, der ungefähr mit der Schweiz oder den USA zu vergleichen wäre. General de Gaulle lehnte ein solches Europa nach schweizerisch-amerikanischem Muster heftig ab und proklamierte den Begriff des „Europa der Vaterländer“. Noch vor seiner Machtübernahme bekämpfte er mit-Vehemenz die zweite Etappe einer europäischen Integration, welche die Schaffung einer Verteidigungsgemeinschaft (EVG) und die Aufstellung einer gemeinsamen Armee vorsah. Dank einer eigentlich unnatürlichen Koalition zwischen Gaullisten, Kommunisten und verschiedenen einflußreichen Persönlichkeiten wurde die EVG durch das Pariser Parlament zu Fall gebracht. Robert Schuman hat diese Niederlage nie richtig verwunden und prophezeite schwere Rückwirkungen bezüglich des Willens der europäischen Staaten, sich gemeinsam der Drohungen aus dem Osten zu erwehren.

In der V. Republik konnte er nicht mehr zum Zug kommen und begnügte sich damit, in zahlreichen Vorträgen, die ihn durch ganz Europa führten, für die einzige gemeinsame politische Idee einzutreten, die das Abendland seit 1945 gefunden hat, Eine dieser Reisen brachte ihn nach Österreich, und er schwärmte noch Jahre später von dem herrlichen Empfang, den ihm die Stadt Graz bereitet hatte. Als einer von wenigen internationalen Staatsmännern trat er öffentlich für eine Lösung des Südtirolproblems nach österreichischen Vorstellungen ein. Für Robert Schuman war Europa die große Leidenschaft und er konnte nicht verstehen, daß Grenzprobleme weiterhin die Beziehungen zwischen den Staaten unseres Kontinents beschweren sollten. So steht dieser Mann unvergessen vor uns und man könnte ihm auf sein Grab einen Kranz mit der Inschrift legen: „Robert Schuman — dem Vater Europas.“

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