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Das Evangelium leben

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Alte Menschen müssen verdursten, weil sie stundenlang im gemeindeeigenen Spital nach der Schwester klingeln: Das ist der angeblich soziale Alltag in Rom.

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Alte Menschen müssen verdursten, weil sie stundenlang im gemeindeeigenen Spital nach der Schwester klingeln: Das ist der angeblich soziale Alltag in Rom.

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Keine Infrastruktur auf sozialem Gebiet; Schließung vieler psychiatrischer Anstalten, illegale Afrikaner, die ins Land strömen und keine Arbeit finden; Obdachlose, für die keine Ausspeisung von staatlicher Seite durchgeführt wird: Das sind die unsozialen Zustände in Rom.

In dieser Umgebung wird eine religiöse Bewegung aktiv: Die „Commu-nitä di S. Egidio”, die im Zentrum Roms, in Trastevere, beheimatet ist und mit ihren 7.000 Freiwilligen verschiedene soziale Aufgaben übernimmt. Eine selbsterrichtete Mensa etwa, die täglich 1.300 Obdachlose im Schichtdienst ausspeist. Oder junge Mädchen, die abends in die Vororte Roms fahren, um in Satellitenstädten alte Menschen zu pflegen - denn die staatlichen Krankenhäuser funktionieren nicht mehr.

Die Gemeinschaft von S. Egidio ist eine charismatische Bewegung, die einen starken benediktinischen Einschlag vorweisen kann: Ora et labora. Man kommt in diese Kirche hinein, mitten in der römischen Altstadt von Trastevere, dort, wo früher die armen Leute zu Hause waren, heute aber die Amerikaner Restaurants eröffnen, und gleich links ist ein Altar der Armen zu sehen: Bilder jener Obdachlosen, die erst kürzlich gestorben sind. Tägliche Abendgebete schweißen zusammen. Da sitzt die junge Krankenschwester, die zweimal die Woche an die Peripherie fährt, um alte Frauen zu betreuen - gratis, als selbstgestellte Aufgabe eines einfachen S. Egidio-Mitglieds - gleich neben einem Obdachlosen. Sie reichen sich die Hände und beten miteinander.

Doch beten ist nicht alles. Die Tausenden Mitarbeiter schwirren aus und übernehmen bescheidene Aufgaben, die eigentlich die Stadtverwaltung zu tragen hätte. Aber die hat sich - nach einer Zusage zur „Mitfinanzierung” der Mensa - aufgrund eines Sturzes der Stadtregierung seinerzeit gleich wieder verabschiedet. Die Arbeit erfolgt auf zwei Ebenen. Die eine ist die Ausspeisung, die seit zwei Jahren stattfindet. Die andere „Front” ist die direkte Straßenarbeit. Weitere Tätigkeiten: Wanderschulen für die Kinder der 2.000 römischen Zigeuner, Altenpflege, Kinderbetreuung in den Slums.

Einer der Exponenten der charismatischen Bewegung, Cesare Zucconi, 28 Jahre alt, drei Jahre lang in Wien am Theresianum gewesen, war auf Einladung der Abteilung Religion im ORF/Hörfunk in Wien zu Gast. Der Diplomatensohn Zucconi hat 1978 im Alter von 15 Jahren begonnen, sich für die Arbeit der Gemeinschaft zu interessieren. „Das Evangelium hat mich eigentlich nie angesprochen”, erzählt er von seinen ersten Erfahrungen mit der Kirche, „weil der Priester meiner Pfarre - ein sehr gebildeter Mann - extemporierte, griechische Texte zitierte und so weiter. Daß das Evangelium mehr sein kann, habe ich erst in S. Egidio erfahren, als ich durch Zufall von einem Schulfreund dorthin eingeladen wurde.”

Heute arbeiten 7.000 vorwiegend junge Menschen in der römischen Communitä. Weitere Gruppen entwickelten sich in ganz Italien, vor allem in Neapel, wo mit Straßenkindern gearbeitet wird. Zucconi: „Einer der bekanntesten Killer der Camorra in Neapel war 15 Jahre alt.” Diese Kinder von der Straße wegzubringen ist ein fernes Ziel der Communitä. Mittlerweile hat diese Bewegung Filialen auf der ganzen Welt, 15.000 Mitglieder kann sie vorweisen. Auch im deutschen Würzburg ist eine Dependance entstanden: Theologiestudenten kümmern sich um alleinstehende Mütter. In Österreich hat sie sich noch nicht niedergelassen.

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