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Das Experiment von Güssing

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Eine Tafel an der Wegkreuzung vor der Einfahrt in die historisch so wichtige Ortschaft Güssing im Burgenland verweist auf die Nähe eines Wildparks. Arglose Touristen haben hier gegen ein geringes Entgelt die Möglichkeit, sich auf schattigen Waldwegen zu ergehen und dabei hin und wieder auch Tiere „in der freien Natur“ zu beobachten; für Leute, die unbedingt in die Waldungen hineinfahren wollen, gibt es Parkplätze, in einem der metallen glänzenden Gewässer kann man sogar angeln. Also: ein Ort der Freizeitgestaltung? Auch das. Doch ist die idyllische Szenerie der Schauplatz eines in seinen Auswirkungen bedeutsamen Experimentes. Es wird hier der Versuch unternommen, bei geringerem Energieverbrauch mehr Fleisch zu produzieren.

Das Experiment selbst ist durch die Energiekrise so wichtig geworden. Doch steckt hinter dem ernährungswissenschaftlichen Problem eine zoologische Frage, in dieser jedoch eine weitere Frage philosophischer Natur: Ist die Vorstellung einer ununterbrochenen Entwicklung zum Wohle des Menschen haltbar? Oder gibt es (in diesem Fall zoologische) Entwicklungen, die wohl möglich, aber letztlich unsinnig sind?

Soll man also Haustiere immer mehr durch Züchtung verfeinern? Auch dann, wenn solche Verfeinerungen unverhältnismäßig viel Energie verbrauchen und also der menschlichen Gesellschaft zu viel kosten müssen?

Steht hier nicht das Prinzip der Entwicklung im diametralen Gegensatz zu den einfachsten Interessen der Gesellschaft?

Der Wildpark von Güssing gehört zu den Gütern von Karl Draskovich. Er, der Weidmann und Landwirt, ist es nun, der auf die theoretische Frage eine praktische Antwort geben will, indem er „halbwilde“ Tiere züchtet „Semiferox“, so lautet der Fachaus druck. „Semiferox als Wirtschaftsform“ ist der Titel einer kleinen Studie, in der Draskovich seine Überlegungen zusammenfaßte. Er will Kreuzungen hersteilen, die durch ihre guten Eigenheiten dazu beitragen können, das Problem der Fleischversorgung zu lösen. Das wichtigste Beispiel dieses Strebens ist das „Waldschwein“: ein Schwein, das die Qualitäten des Hausschweines mit der Zähigkeit des Wildschweines vereint.

Um solche Waldschweine zu halten, braucht man einen entsprechenden, durch ein Gatter abgesperrten Wald. Hier leben die Tiere frei. Man muß sie weder säubern noch füttern. Bei Bedarf werden zur Fütterung Automaten eingesetzt. FürbesondersharteWinter ist vorgesorgt: umzäunte Maisfelder im Wald werden zur Fütterung geöffnet Es fallen edle Kosten der energieintensiven Tierhaltung weg; auch müssen die Waldschweine nicht mit Medikamenten gefüttert und medizinisch versorgt werden.

Im Wildpark bei Güssing werden also halbwilde Tiere gezüchtet: vor allem Schweine und Rinder, aber auch Schafe und sogar Pferde. Zu diesem Zweck steht ein Gebiet von etwa 800

Hektar zur Verfügung. Ein Teil des Wildparkes dient der Erholung. Auf einem Gebiet von 420 Hektar gibt es drei Gatter. Im ältesten, 1963 angelegten Gatter leben Rotwild und Damwild, daneben Wasserbüffel, Schafe, Ziegen und Esel. Im zweiten Gatter werden vor allem Wildschweine gehalten. Im dritten Gatter leben die neugezüchteten Waldschweine.

Dem Experiment gegenüber mißtrauisch sind alle Vertreter eines extremen Spezialistentums. „Stellen Sie sich vor“, schreibt Kart Draskovich, „wie man einem Forstmann verständlich machen soll, daß man nun die Waldweide wieder einführen will, wo man doch gerade mit Mühe und Aufwand, vor allem im Gebirge, Wald und Weide getrennt hat Auch der Jäeer hört es nicht gerne, daß man Wild zusammen mit primitiven Haustierras- sen halten will. Der Tierzüchter wieder, stolz auf seine veredelten und hochgezüchteten Haustierrassen, hört es nicht gern, daß man sich speziell für primitive Rassen interessiert, die verdrängt worden oder bereits ausgestorben sind. Der Zoologe wieder ist rasch mit dem Begriff der Faunenfälschung da, wenn man Tierarten in das

System einbeziehen will, die bei uns in freier Wildbahn nicht heimisch sind.“

Von einem weiteren, juristischen Problem gar nicht erst zu reden, denn niemand weiß, ob das Waldschwein etwa nach dem Jagdrecht zu den wilden Tieren oder zur Kategorie der Haustiere gehört

Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, daß die bisher herrschenden Leitprinzipien eine Aufforstung der nicht mehr rentabel bebaubaren Äk- ker vorsehen. Karl Draskovich meint nun, daß man Grenzertrags- oder Marginalböden nicht unbedingt immer aufforsten soll (und schon gar nicht mit Nadelholz), sondern daß man die Möglichkeit von Waldweiden nicht außer acht läßt. „Zu Zeiten der Ernäh rungskrise“, schreibt er, „stellt eine Weide eine ernährungsstrategische Reserve dar.“ Und weiter: „Es muß angesichts weltweiter Unterernährungsprobleme, vor allem dem Mangel an Eiweiß, als bedenklich angesehen werden, daß enorme Flächen besten Ackerlandes zur Erzeugung von Mais als Viehfutter verwendet werden, während anderseits große Äsungsund Weidemöglichkeiten ungenutzt .bleiben.“ Auch hier wirkt der Gedanke: den energieintensiven Umweg zu ersparen und im Zeichen des „Semiferox“ gesundes tierisches Eiweiß zu produzieren.

Das Experiment von Güssing ist also für die Entwicklungsländer’von beachtlicher Bedeutung. Es hilft zugleich den hochentwickelten Industriestaaten zur Lösung von Energieproblemen in der Landwirtschaft ganz bestimmte Modelle zu entwickeln. Und schließlich: hier hilft die zoologische Praxis, den flachen und dogmatischen Fortschrittsglauben des allmählich absterbenden Positivismus zu überwinden, dem wissenschaftlichen Weltbild unseres Jahrhunderts Platz zu machen. Karl Draskovich wäre gerne bereit, seine Erfahrungen und auch seine Wälder einem größeren wissenschaftlichen Programm zur Verfügung zu stellen. Vorläufig existiert kein Projekt dieser Art, und also wirkt Draskovich als Partisan der Zukunft Er gehört zu den Einsamen der geistigen Avantgarde.

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