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Das Fest der nassen Mädchen

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Damals, in Ungarn, froren wir, Kinder, im Wind, jedes Jahr froren wir in den Tagen vor Ostern, dabei schien meistens die Sonne, und auf den feuchten Wiesen, auf den bleifarbenen Pfützen tanzten plötzlich grünliche Lichter; und dennoch froren wir — so nannten wir es wenigstens, das Prickeln in den bloßen Knien, das Zittern am Rücken, das Kribbeln in den steif lächelnden Lippen, wir froren aber in Wirklichkeit gar nicht, wir waren nur aufgeregt.

Vierzig Tage lang hatte Großmutter ohne Fett gekocht, kein einziges Mal waren wir satt geworden, und wenn einer von uns Speck stahl — er hing im Kamin —, dann war es eine Sünde vor Gott. Am Gründonnerstag wusch der Pfarrer einem Armen den Fuß, und dieser Arme war jedes Jahr der Mesner; unter der weichen weißen Hand sahen die knolligen Zehen wie Wurzeln aus; der Pfarrer demütigte sich jetzt, der Fuß war nicht einfach ein Fuß, der Mesner vertrat alle Armen der Welt, das Waschen gab uns ein Beispiel, aber wofür? Wir hatten dunkle Ahnungen. Dann läuteten die Glocken nicht weiter, ihre Seelen flogen nach Rom, der Altar wurde entblößt, und immer noch zitterten wir im Fieber einer Erwartung, die kein deutliches Ziel hatte, knieend auf den steinernen Quadern. Die Karfreitagsmesse war kurz, vor dem Nebenaltar lag der Corpus, tagsüber beteten Familien vor ihm, immer eine ganze Familie und jede zweimal am Tag, abends aber sangen die Burschen, die beinahe Erwachsenen, alte Lieder, die Klagen des Propheten Jeremias. Der Pfarrer war nicht dabei, von allen kirchlichen Personen war nur der Kantor anwesend; die Burschen kannten wir gut, sie waren berühmte Trinker oder berüchtigte Raufbolde oder unverschämte Schürzenjäger oder das alles zugleich, doch waren sie nun alle rein von Sünden, sie waren bloß Stimmen, durch die der alte Prophet zu uns sprach. Das Wunder war greifbar nahe. Nach Mitternacht gingen die frommsten Frauen auf den Friedhof. Sie hatten Schnaps getrunken vorher, denn die Nächte waren kühl, man mußte sich wärmen; in Tücher gehüllt, schwarz und andächtig knieten die Frauen zwischen den Gräbern, sie begruben Christus, beweinten ihn, wachten über dem einsamen Toten, fanden den Körper, sahen ihn auferstehen, gingen dann erlöst und beruhigt nach Hause. Am Karsamstag kehrten die Seelen der Glocken aus Rom wieder zurück, der Pfarrer segnete das Feuer und das Wasser, wir sangen aus vollen Kehlen das Halleluja! Und gingen dann die Straßen kehren für die Prozession. Nachmittags band die Mutter ein Stück Schinken, einen Kuchen, Eier, etwas Wurst in ein Küchentuch, wir trugen- unsere Bündel in die Kirche; da lagen sie vor dem Altar, wurden gesegnet; schnell liefen wir mit der heiligen Speise nach Hause, um uns

dann zur Prozession zu gesellen. Vorne trug man die Gestalt des Erlösers in Holz geschnitzt. Er war auferstanden, lächelte sogar: ein kräftiger, schöner junger Mann in feinem Gewand. Von da an froren wir nicht mehr.

Ganz früh am Ostersonntag stand Vater vor dem Spiegel. Er rasierte sich umständlich, seinen Schnurrbart stutzte er mit einer kleinen Schere zurecht. Wir sahen zu. Zur Frühstückszeit war Vater sonst in der Scheune, im Stall, in der Stadt, auf dem Markt, wir sahen ihn gewöhnlich erst mittags. Jetzt saß er am Tisch, nahm das Bündel, verteilte die gesegneten Speisen, Dann mußten wir hinaus auf die Straße, nein, wir wollten hinaus, denn ein ungeheures Kochen ging in der Küche vor sich, und außerdem waren die Mädchen mit ihren Geheimnissen beschäftigt. Wir promenierten vor der Kirche, aber das war zu fein. Lange hielten wir unsere eigene Feinheit nicht aus, also spielten wir jenseits der Lehmgrube Fußball, und zwar barfuß, denn die Schuhe mußten sauber bleiben, wenigstens außen. Manchmal gab es auch eine Prügelei. Schwestern nähten dann vor dem Mittagessen

die zerrissenen Hosen. Als wir heimkehrten, dampften aus jedem Haus die gleichen Düfte üppiger Speisen; wie festliche Fahnen, so verheißungsvoll feierlich wehten die guten Gerüche. Nach dem Essen lungerten wir herum, denn der Nachmittag gehörte den Mädchen. Im Wirtshaus begannen die ersten Zigeuner zu spielen, doch hörten sie wieder auf, man soff noch nicht richtig. In den guten Stuben, die sonst leer waren am Abend, brannten nun Lichter. Hinter den Fenstern saßen Mädchen und malten immer noch Eier. Oder sie probierten ihre neuen Blusen an, ihre munter fliegenden Röcke. Wir drückten unsere Nasen flach, sahen aber viel zu wenig.

Am Ostermontag sahen wir mehr. Da spazierten alle die Röcke und Blusen die Straße entlang; artig geschlossen die Münder, kaum ein Lächeln im Blick, straff die Zöpfe, das weiße Taschentuch in den Händen — so gingen die Mädchen im rhythmischen Gleichschritt. Dann, ein Schrei, die kleine Schar stob auseinander, ein Bursche war auf die Straße gesprungen, zwei Helfer hinterher, schon hob sich der hölzerne Eimer voll Wasser; lachend und weinend, nach Hilfe rufend

stand das erste Opfer unter einer noch laublosen Akazie. Naß war die Pracht, naß das Mädchen bis auf die Haut. Dann die nächste, die übernächste — alle fanden einen, der sie begoß; sie kreischten, sie flehten, sie weinten, vergeblich. Noch mehr weinten aber die, die trocken geblieben waren, von niemandem umarmt, bezwungen, zum Brunnen gezerrt; stolz lächelten sie in ihrer unversehrt gebliebenen Pracht, stolz und starr, und schluchzten dann bitterlich daheim. Doch gab es mehr Wasser als Tränen. Die alten Weiber, die in der Nacht auf Karsamstag mit schnapsgewärmten Knochen noch das Wunder erlebt hatten, musterten nun geduldig und prüfend die jungen, schauten Hüften und sahen Wiegen, und „Meint er es wirklich ernst?“ fragten sie, und „Werde nur nicht rot, was zierst du dich so“, murrten sie aus zahnlosen Mündern. Die Mädchen schlüpften in trockene Kleider. Sie schwiegen beim Essen. Dann standen sie in der guten Stube am Fenster und drückten sich die Nasen flach — wie wir am Abend vorher. Allerdings von der anderen Seite.

Die mit Eimern bewaffneten Helden hatten sich inzwischen in

schmachtende Kavaliere verwandelt. Rot vom üppigen Mittagessen, noch mehr errötend beim Eintritt, ratlos, ein wenig verwirrt, ernst, Verlegenheit mit blumigen Komplimenten überspielend saßen sie nun an den Tischen, machten Konversation, taten so, als wäre es die natürlichste Sache der Welt, gerade in dieser einen Stube Schnaps zu trinken, gerade diesem einen Mädchen gegenüber, das die Flasche mit flinker Hand schwenkte, „Ach, noch ein Gläschen“, hauchte es aus dem Rosenmund — denn alle Kavaliere verglichen alle Münder aller Mädchen mit Rosen —, Blicke brannten, Röcke rauschten, und die Eltern saßen irgendwo ferne in der Küche. „Alle Eier selbst bemalt?“ Das Mädchen wurde verlegen. Der Kuchen war köstlich. „Selbst gebacken?“ „Ach, nicht der Rede wert.“ (Großmutter hatte geholfen.) So schleppte sich das Gespräch fort, doch waren die Worte nicht wichtig. Laute waren sie, sonst nichts, Ruf und Echo, musikalische Untermalung für Blicke. Dann ging man zum Ball.

Der Ball begann nachmittags um vier und war morgens um vier noch lange nicht zu Ende. Die Zigeuner spielten erst langsame Melodien, drängten den Rhythmus allmählich ins Ohr, unter die Haut, in die Beine, bis sich die Füße bewegten, unwillkürlich zuerst, dann bewußt, etwas Schnelleres fordernd. Sohlen und Blicke befahlen, stürmisch war die Musik. Die ersten Paare kreisten auf dem Bretterboden, steif das gerade Rückgrat, etwas zurückgeneigt der Oberkörper, die Blicke vereint. Der erste Höhepunkt kam gegen sieben. Da bewegten sich auch die Kinnladen der Alten bereits im Takt. Wir rochen Menschendunst. Es war geheimnisvoll. Um acht begann das Theater.

Keine Schauspieler waren es, die auf der allzu hohen Bühne des Festsaales im Wirtshaus in bunten Kostümen agierten, sondern Mädchen und Burschen aus dem Dorf. Regie geführt hatte der Lehrer, manchmal saß er auch vor dem Klavier. „Gelbes Fohlen“ hieß das eine Stück, das man spielte, ein anderes Jahr war es „Der rote Geldbeutel“ und dann wieder „Der Dorfschreck“. In den ersten Reihen saßen ältere Männer und Frauen, sie spielten und sangen mit, denn sie kannten alle Texte; sie hatten die Stücke irgendeinmal selbst gespielt, und nun sahen sie der Jugend zu, nicht gerührt, eher prüfend. Dann wurde geklatscht. Der Lehrer schwitzte, die Spieler tranken, die Zuschauer schwatzten, endlich tanzte wieder alles. Stampfende Füße ließen die letzten Staubkörnchen aus den Brettern fliegen; stolze, berauschte Gestalten preßten die Nacht aus wie eine Zitrone. In der Morgendämmerung spazierten Paare die Straße entlang, standen schweigend vor Türen, ohne zu wissen, v^as nun zu sagen war. Es gab wenig zu sagen. Die betrunkenen Männer versammelten sich um die Zigeuner und trösteten sich mit noch mehr Wein und noch mehr Musik. Mädchen, die auch jetzt noch einsam geblieben waren, hatten sich längst verkrochen, steif vor Schmerz. Alleingebliebene Burschen hatten es besser, sie träumten gemeinsam.

Am Dienstagmorgen standen die Mädchen unausgeschlafen, aber voll List und voll Kraft und voll lieblicher Bosheit vor der Tür des Elternhauses, volle Eimer bei der Hand. Wenn irgend jemand zwischen sieben und siebzig, der Hosen trug, vorbeiging, wurde er gründlich begossen. Wir, Siebenjährige, schrien, die Siebzigjährigen brummten etwas Unverständliches unter dem Schnurrbart; vielleicht sahen auch sie für einen Augenblick wieder Wiegen, vielleicht war es nur ein Fluch.

Dann schlüpfte der Osterhase in sein Loch zurück, und die Ostereier wurden gegessen. Als der letzte Rest des gesegneten Schinkens verschwunden war, begannen die Akazien zu blühen und die Mädchen. Wir rannten nach der Schule auf die Wiesen hinaus und spielten Fußball, oder wir sahen den Schnecken zu. Denn einer von uns hielt eine ganze Herde von Schnecken in einer Schuhschachtel, und jeden zweiten Tag ließ er sie weiden im Gras. Christus war auferstanden. Vor uns lag ein unübersehbarer Sommer, voll Kirschen und Blumen und Glück.

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