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Das Fleisch willig der Geist schwac

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Das Wissen um christliche Festtage, um Inkarnation und Geburt, schrumpft. Anderes wird für „weit wichtiger“ gehalten. Da tut Besinnung auf unsere geistigen Wurzeln not.

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Das Wissen um christliche Festtage, um Inkarnation und Geburt, schrumpft. Anderes wird für „weit wichtiger“ gehalten. Da tut Besinnung auf unsere geistigen Wurzeln not.

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Wieweit sind die Felder heutiger menschlicher Aktivität Inkarnation des Geistes und des Christentums? Für Naturwissenschaft und Technik bietet es sich an, Inkarnation auf dreifache Weise zu verstehen: als Entstehung im Geist, als Sichtbarwerdung und als Menschwerdung, denn beide Felder durchlaufen diese drei Phasen, und es paßt auf die weihnachtliche Zeit, sich zu besinnen, wo die Wurzeln des uns so vertrauten, des uns überwältigenden naturwissenschaftlich-technischen Gedankengutes liegen und wieweit diese Wurzeln wünschenswerte Triebe gebildet haben.

Naturwissenschaft und Technik sind ja keineswegs gleichmäßige Komponenten der menschlichen Existenz und Geschichte. Vielmehr haben sie jahrtausendelang wenig Bedeutung und Volumen gehabt, erst in den letzten Jahrhunderten die Welt so drastisch erfüllt, und es kann gut sein, daß sie sich von nun an wieder rückbilden werden; nicht, daß wir ohne sie auskommen könnten, aber das Wichtignehmen könnte abnehmen. Es gilt ja ganz allgemein, daß Erkenntnisse und Ereignisse an historische Bedingungen geknüpft sind. Gedanken, Entdeckungen und Erfindungen brauchen einen bestimmten Kontext, um Beachtung, Bedeutung und Entwicklung zu bekommen.

Die Inkarnation Christi erfüllte selbstverständlich auch diese Bedingungen, und mit einiger Uber-legung kann man sich „ausrechnen“, wann sie stattfinden mußte. Sicherlich wäre sie vor der Erfindung der Schrift, vor dem Erreichen einer gewissen literarischen Kultur nicht „zweckmäßig“ gewesen, denn der Gedankeninhalt der Lehre Christi mußte verläßlich gespeichert werden, nicht zu früh und nicht zu spät aufgezeichnet. Es brauchte auch ein Vehikel zur Verbreitung, und der passende Abschnitt der Geschichte weist wohl kein besseres auf als das Römische Reich, umspannend, prägend und überdauernd. Würde man nicht den Höhepunkt wählen, Cäsar und Augustus, wenn man nichts wüßte und einen günstigen Zeitpunkt zu bestimmen hätte? Selbst den Entstehungsort könnte man mit derartigen Uber-legungen „ausrechnen“.

Auch Naturwissenschaft und Technik erscheinen an historische Bedingungen geknüpft. Jede Entdeckung, jede Erfindung und jedes technische Produkt braucht den passenden Kontext oder es wird nichts daraus. Hätte man jemandem in den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts eine Boeing 747 geschenkt, er hätte sie nicht verwenden können, weil die Betriebsbedingungen nicht vorhanden waren.

Zuerst einmal braucht es eine geistige Kultur, als Dünger sozusagen. Diese war nicht überall auf der Welt gleich günstig gegeben, aber man kann eine Reihe von geographischen Bereichen aufzählen, die sich anboten: Ägypten, das Zwischenstromland, Griechenland, Indien, China und vielleicht Mittelamerika. Es gehört die Überhöhung dazu, die Idee des höheren Gesetzes, eine religiöse, eine himmlische Wurzel; die Sterne waren da immer schon attraktiv, und die moderne Physik begann mit der Himmelsmechanik, abgehoben quasi vom irdischen

Getriebe. Und es war der mathematische Formalismus erforderlich, der knappe, überschaubare und generell anwendbare abstrakte Ausdruck.

Warum dauert es bis zur Renaissance, bis dies alles in Gang kommt, warum passiert es in Europa und sogar noch in Abhängigkeit von einem arabischen Intermezzo (selbst das griechische „Know-how“ erhielten wir nicht direkt, sondern über arabische Ubersetzungen)? Wahrscheinlich, weil ganz bestimmte — auch soziale — Bedingungen erfüllt sein mußten; der Buchdruck als technische Voraussetzung mag wichtig sein und der Uber gang der Mathematik vom Handwerk zur Wissenschaft; die Lust zu Experimenten mußte bestehen — das ist nicht selbstverständlich, in unserer Zeit scheint diese Lust arg im Abnehmen begriffen zu sein.

Galilei ist zu einer Art Galionsfigur der Naturwissenschaft gemacht worden, und es ist der Eindruck entstanden, als hätte es sich um eine Front gehandelt zwischen Kirche und Naturwissenschaft, um einen Sieg der Kirche, der die Naturwissenschaft zurückgeworfen hat. Eine solche Front konnte es gar nicht gegeben haben, denn die Naturwissenschaft war damals weit überwiegend vom Kle-, rus getragen; es war eine Auseinandersetzung unter Kollegen, und diese verteidigen stets das Bisherige, und das müssen sie auch tun, denn nur was diese Verteidigung überwindet, ist berechtigt, das Alte zu ersetzen. Außerdem beweist der Sieg nicht, daß das Neue in eine bessere Welt führt; die Wahrheit ist komplex.

Ohne in Einzelheiten zu gehen, sei eine globale Zusammenfassung formuliert: Die Naturwissenschaft in ihrer heutigen Aus-büdung ist im christlichen Kulturkreis auf christlichen Fundamenten entstanden. Die durch den Namen Galilei symbolisierte Objektivierung (und Emanzipation von der kirchlichen Aufsicht) hat Systematik und klare Architektur des Gedankengebäudes zur Folge, aber auch eine Entmenschlichung, deren volles Ausmaß erst in unseren Tagen allmählich sichtbar wird.

Oder anders ausgedrückt: Der Versuch, die Natur durch Experiment und Messung unter Beherrschung zu bringen, brachte Wissen und Macht, Sichtbarkeit in der technischen Realisierung, aber sinkende Einbettung im Menschlichen, in der Gefühlsund Glaubenswelt. Die Mechanismen aus Metall oder Elektronen gaukeln uns vor, daß Mechanismen — meist schönfärberisch als wissenschaftliche Methodik angepriesen - für alles gut sind, daß wir Menschen Mechanismen (wenn auch komplizierte) in einer mechanischen Welt sind. Selbst der Geist ist Mechanismus, freuet euch: Wir produzieren künstliche Intelligenz!

Naturwissenschaft und Technik, die Kinder einer christlichen Geisteshaltung, haben sich unabhängig gemacht, und wir haben sie zu einer Autorität werden lassen, der die innere Berechtigung fehlt. Es ist eine Inkarnation des christlichen Geistes, die einem alten Wort merkwürdig aktuelle Bert deutung erteüt: Das Fleisch ist willig, aber der Geist ist schwach.

Während der Computer mit seinen mechanischen Verarbeitungsregeln wie eine gigantische Steigerung der Entmenschlichung aussieht (und es auch sein kann), könnte er doch auch die Wendung bedeuten. Denn der Computer durchbricht auf eigenartige Weise das Galileische Prinzip des Messens und Meßbarmachens: Er verarbeitet Information, und Information läßt sich nicht messen; nur die Symbole, die im Speicher sitzen oder über Leistungen reisen, kann man zählen — was sie bedeuten, entzieht sich dem physikalischen Zeiger.

Information wird so richtig erst zur Information durch den Menschen. Die Physik hat den Menschen wegobjektiviert, aus dem Zentrum entfernt—was bleibt von ihm über im physikalischen Weltall oder unter dem Elektronenmikroskop? Die Informatik holt ihn wieder herein, wenn sie nicht auf Wesentliches verzichten will: auf die Bedeutung der Zeichen und Texte.

Es sagt sich ein Zeitalter an, in welchem die geistigen Werte wieder höheren Stellenwert bekommen — nicht so sehr, weil die Menschheit von sich aus auf den Weg zu Moral und Ethik gefunden hätte, sondern weil der Mangel an geistigen Werten zu schlechter Funktion und finanziellen Verlusten führt: nicht ein edles Motiv für Besserung, aber ein wirksames. Und man muß warten, bis es die Zuständigen merken. Aber es ist eine Hoffnung.

Ja, man könnte sagen, daß die christliche Substanz von Naturwissenschaft und Technik nach einer Periode der Materialisierung und der Glaubenslosigkeit -vom falschen Vertrauen in die Mechanik der Naturwissenschaft hervorgebracht — wieder durchbricht. Es ist ein zartes Pflänzlein und bedarf der sorgfältigen Pflege, aber es ist da.

Weihnachten als Fest ist von der Entwicklung der Welt im technischen Zeitalter arg geschädigt worden, es wurde von den Zügen einer sich selbst genügenden Welt überwuchert, von Mechanismen in tausend Gestalten übertönt -oft in guter Absicht, aber mit zerstörenden Folgen. Weihnachten als symbolische Geburt Christi, als Urquell der Erneuerung der Welt und als Sichtbarwerden Gottes, der dann gekreuzigt wird und - der Physik hohnsprechend -vom Tode aufersteht, braucht heute eine Glaubenskraft, die kaum mehr jemand aufbringt.

Was muß man da an Naturwissenschaft und Technik wegschieben, um noch zur Symbolik und durch sie hindurch an das Reelle des christlichen Glaubens heranzukommen? Wer kann diese Feiertage noch zur Überhöhung verwenden — braucht sie nicht jeder zur Erholung von einem Eingespanntsein in eine Welt, die so wenig davon merken läßt, daß uns die Technik die Arbeit und Mühe abnimmt? Es scheint eine immer ärmlichere Welt zu sein, die uns Naturwissenschaft und Technik -trotz ihrer unleugbaren Erfolge -bescheren.

Aber es ist nicht die Welt, die ärmlich ist; sie hat noch genug des Schönen und des Wunderbaren. Sogar in hochtechnischen Umgebungen. Die erscheinende Ärmlichkeit ist eine Widerspiegelung des menschlichen Innern, dem keine Kosmetikindustrie helfen kann, sondern das neues Leben braucht — das neue Leben, das vom Kind in der Wiege symbolisiert wird, eine unendliche Weisheit unserer Altvorderen, die wir fast zur Bedeutungslosigkeit haben verkommen lassen.

Der Autor ist Computerwissenschaftler und lehrt an den Technischen Universitäten in Wien und München.

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