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Das freiwillig soziale Jahr

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Laut einer soziologischen Untersu­chung in Österreich reihen Jugendliche soziales Engagement bei der Frage nach der interessantesten Freizeittätig­keit an die erste Stelle. Bei der Frage nach dem tatsächlichen Freizeitverhal­ten rangiert das soziale Engagement weit abgeschlagen an letzter Stelle.

Diese Ergebnisse sind auf den ersten Blick entmutigend.

Denn, heißt das für die Zukunft, daß in der Praxis „Sozialarbeit“ in den ver­schiedenen Formen noch mehr von „so­genannten Profis“ geleistet werden muß, die je nach Bereich oder Institu­tion die Klienten mehr oder weniger gut verwalten?

Heißt das, daß die Jugendlichen zwar fromme Wünsche haben, aber im Letz­ten nicht bereit sind „Hand anzule- gen“•

Im Gespräch mit Jugendlichen spüre ich oft Resignation. Was nützt es, wenn

wir etwas tun, wenn zugleich in unvor­stellbarem Ausmaß und systematisch Elend und Not, Einsamkeit und Ver­massung, Beziehungslosigkeit und Streß produziert werden.

Oder: Die Zahl derer, die den Lauf der Gesellschaft nicht mehr durchhal­ten, steigt, sie werden an den Rand ge­drückt. Unsere Gesellschaft ist eine Aussonderungsgesellschaft. Wer noch nichts oder nichts mehr leistet, wird ausgesondert, ist wirtschaftlich nicht verwertbar und nicht brauchbar. Wir haben Käfige für Alte, Behinderte, Kin­der, Rechtsbrecher usw.

Menschen sind oft nicht wegen einer besonderen Behandlung in Heimen und Anstalten, sondern weil sie abgescho­ben werden. Gesundes Leben aber ist in einer ungesunden Käfigluft nicht mög­lich, wo in der Regel der nötige Frei­raum fehlt und wo Leben dann nur mehr ausharren oder dahinsiechen ist. Ist hier helfen nicht heftpflasterpicken?

Diese Argumente und Fragen hörte ich in letzter Zeit, in verschiedenen Va­rianten, oft von Jugendlichen.

Trotz dieser Fragen, trotz der offen­sichtlich spürbaren Hilflosigkeit die Gesellschaft entscheidend zu verän­dern, spüren die Jugendlichen, daß den „Bedürftigen“ unserer Gesellschaft hier und jetzt geholfen werden muß.

Ich frage mich weiters:

• Welche günstigen Möglichkeiten ei­ner Mitarbeit gibt es derzeit im sozialen Bereich für Jugendliche mit keiner Vor­bildung?

• Wer motiviert für ein konkretes An­liegen und wie?

• Wer begleitet so ein Engagement? Denn Ängste und Unsicherheiten tre­ten erfahrungsgemäß ein.

Denn es ist andererseits eine Tatsa­che, daß die Bewerber für Sozialschu­len und Akademien laufend steigen. Es ist ferner eine Tatsache, daß sich für das freiwillig soziale Jahr noch nie so viele Bewerber meldeten, wie im ver­gangenen Jahr.

Meiner Meinung ist es eine vordring­liche Aufgabe der Jugendorganisatio­nen und sozialen Einrichtungen Ju­gendlichen Erfahrungen im sozialen Tun zu ermöglichen, diese Erfahrungen dann durch gezieltes Verarbeiten zu qualifizieren. Hier müssen wir neue Wege suchen und finden.

Eine Möglichkeit ist das freiwillig so­

ziale Jahr (FSJ). Der Verein zur Förde­rung freiwilliger sozialer Dienste wurde 1968 von fünf kirchlichen Jugendorga­nisationen gegründet, um Jugendlichen zu ermöglichen, in einem relativ ge­schützten Rahmen die Sozialarbeit kennenzulernen.

Das freiwillig soziale Jahr ist eine sehr intensive Form und daher nur für einen Teil der Jugendlichen möglich.

Nach • einem vierwöchigen Grund­kurs beginnt ein zehnmonatiger Einsatz in verschiedenen sozialen Institutionen, z. B. in Jugendheimen, Behindertenhei­men, Altenpflegeheimen oder Kinder­dörfern. Die Sozialhelfer (so die interne Bezeichnung) bekommen ein monatli­ches Taschengeld von S 1.200.— und freie Station. Außerdem sind sie sozial­versichert und haben Urlaubsanspruch.

Die Sozialeinsätze kommen Hilfsbe­dürftigen unserer Gesellschaft zugute. Sie haben aber vor allem erzieherischen Wert.

Durch den Kurs, den Einsatz und die dauernde Begleitung hat der Jugendli­che verstärkt die Möglichkeit, sich sel­ber kennenzulernen und zu erleben. Er lernt seine Fähigkeiten und Grenzen kennen. Bei den Einsätzen steht der Ju­gendliche in Ernstsituationen, in denen er spürt, daß er gebraucht wird.

Er macht Erfahrungen, die ihm in der „modernen“ Kleinfamilie, der Schule, den meisten Berufen und in der Freizeit nicht zugänglich sind.

Er muß sich durch diesen Dienst mit den Lebensproblemen anderer Bevöl­kerungsgruppen auseinandersetzen, z. B. mit Behinderten, Alten usw.

Der Einsatz - der Dienst am Näch­sten - soll den Jugendlichen zu einer Haltung verhelfen, die in einer Demo­kratie von entscheidender Bedeutung ist und für die es in unserer komplizier­ten Gesellschaftsordnung zuwenig Übungsmöglichkeiten gibt. Es soll die Bereitschaft geweckt werden, Verant­wortung zu übernehmen.

Wir halten eine kritische Auseinan­dersetzung mit den gesellschaftlichen Gegebenheiten und Bedingungen für wichtig, damit es dem Jugendlichen möglich ist, Zusammenhänge unserer Gesellschaft zu erkennen und Vorgänge zu analysieren. Gerade in der Sozialar­beit scheint uns eine „gesellschaftliche Sicht“ nötig, um die familiäre, wirt­schaftliche und kulturelle Prägung des Einzelnen zu verstehen.

Während des Einsatzes besteht für die Absolventen die Möglichkeit, sich mit dem Einsatzbegleiter eingehend über spätere Ausbildungswege und -be- dingungen oder über weitere Tätigkei­ten auseinanderzusetzen. Uns ist dabei besonders wichtig, die „Einsatzerfah­rungen“ miteinzubeziehen.

Eine Absolventin: „Kalkulieren, spe­kulieren, konkurrieren, triumphieren, Leistung-Fortschritt-Gewinn: das wa­ren Leitsätze in meinem Beruf; ich war unzufrieden, der Mensch - ich - zählte nicht.“

Bei den meisten Jugendlichen, die sich bei uns erkundigen und anmelden, ist eine Unzufriedenheit mit der derzei­tigen Situation in Familie, Betrieb, Schule spürbar. Oft ist es der Druck, in einem Beruf zu arbeiten, der den per­sönlichen Erwartungen nicht entspricht und mit dem sie sich nicht identifizieren können. Viele wollen durch das FSJ den Lösungsprozeß von den Eltern be­schleunigen und selbständiger werden.

Derzeit bemühen wir uns verstärkt, Bedingungen zu schaffen,

• daß noch mehr Jugendliche das frei­willig soziale Jahr absolvieren können,

• daß neue Möglichkeiten der freiwilli­gen Sozialdienste für die Jugendlichen gefunden und gefördert werden.

Kontaktadresse: Verein zur Förderung freiwilli­ger sozialer Dienste, Landstraße 79/111,4020 Linz, Tel. 0732/73 3 81

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