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Das Geheimnis des Weges nach Santiago

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Heuer ist es wieder so weit: Der 25. Juli, Namensfest des Apostels Jakobus d. Ä., fällt auf einen Sonntag und damit ist 1993 ein „Ano Santo Compostelano". Unweigerlich gerät zugleich mit dem Heiligen Jahr von Santiago auch der Weg zum Apostelgrab, der „Camino de Santiago" in den Mittelpunkt des Interesses. Das Thema ist „in" und hat seit geraumer Zeit Konjunktur.

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Heuer ist es wieder so weit: Der 25. Juli, Namensfest des Apostels Jakobus d. Ä., fällt auf einen Sonntag und damit ist 1993 ein „Ano Santo Compostelano". Unweigerlich gerät zugleich mit dem Heiligen Jahr von Santiago auch der Weg zum Apostelgrab, der „Camino de Santiago" in den Mittelpunkt des Interesses. Das Thema ist „in" und hat seit geraumer Zeit Konjunktur.

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So mancher Verlag will Interessierten helfen, das Geheimnis der alten Pilgerstraße zu ergründen. Die Mühe ist freilich vergeblich, denn die Erfahrung des Weges läßt sich nicht zwischen zwei Buchdeckeln konservieren. Schon gar nicht läßt sie sich auf diese Weise weitervermitteln. Man muß den Weg selbst gehen, will man seinem Geheimnis auf die Spur kommen. Dennoch sind die (meisten) Bücher hilfreich: Sie vermitteln eine Ahnung von der mystischen Tiefe und verwandelnden Kraft dieser Wegerfahrung. Für manchen Leser und Betrachter können sie gar der Anstoß sein, sich selbst auf den Weg zu machen.

Bildbände

Wie soll man sich im üppigen Angebot zurechtfinden? Man muß zunächst eine Auswahl (hier nach Lieferbarkeit) treffen. Dann wird eine Einteilung in drei Hauptgruppen zur Orientierung nützlich sein. Da gibt es einmal die durchwegs bibliophilen und ansprechenden Bildbände, unter denen „Die große Wallfahrt des Mittelalters" (Vera und Hellmut Hell, Verlag Wasmuth) der Klassiker ist. Kulturgeschichtlich lotet Kurt Benesch (Herder) gekonnt das Phänomen der Wallfahrt nach Santiago aus, doch gelingt es Raymond Oursei (Zodiaque-Echter) noch besser, die religiöse und spirituelle Dimension auszuleuchten.

Der Fotograf des Weges ist wohl Hans-Günther Kaufmann, von dem eigentlich alle Bücher und Kataloge zu empfehlen sind. Leider sind viele davon schon vergriffen. Der jüngste Band aus dem Tyrolia-Verlag geht besonders auf die Bedeutung der Jakobsfahrt für die Entstehung eines Europabewußtseins ein. Wie bei seinen früheren Publikationen, hat Kaufmann auch hier einen kongenialen Textautor gefunden - diesmal den exzellenten Camino-Forscher Millän Bravo Lozano. 1987 startete der Europarat sein

Projekt „Europäische Kulturstraßen" und präsentierte den Jakobsweg als Prototyp. Das quasi offizielle Buch zu dieser Initiative ist „Auf dem Sternenweg nach Compostela" (Verlag Wasmuth, Vorwort von Europarat-Generalsekretärin Catherine Lalumie-re), mit wunderschönen Aufnahmen von Xurxo Lobato und profunden Texten von Fernando Lopez Aisina, Seraffn Moralejo und Luis Carandell. Die aufwendige Ausstattung aller Bildbände läßt das Faszinosum der Wege quer durch Europa zum Apostelgrab am Ende der Welt („Finis-terre" heißt der westlichste Punkt Europas, wenn man den Weg über Santiago hinaus an den Atlantik geht) erahnen, ohne es erklären zu können oder zu wollen.

Weniger aufwendig ist die Gruppe der Pilgerbücher, in denen der subjektive Charakter der Jakobswallfahrt zur Geltung kommt. Diese Bücher darf man nicht ausschließlich nach der literarischen Qualität beurteilen. Selten nur sind Pilger auch Poeten. Die meisten Pilgerbücher haben etwas Unprofessionelles an sich, was meistens schon am Äußeren erkennbar ist. Das Qualitätskriterium heißt hier Authentizität. Das gesamte Schrifttum zum Jakobsweg beginnt Steinig ist mit einem solchen Pilgerbuch, dem ,Liber Sancti Jacobi" eines französischen Geistlichen aus dem 12. Jahrhundert. Dieser auch für den heutigen Jakobspilger maßgebende Bericht wird in verdienstvoller Weise von Klaus Herbers dem deutschen Leser zugänglich gemacht (Verlag Gunter Narr).

Eine willkürliche Auswahl heutiger Pilgerbücher illustriert die Bandbreite der Motive für die Wallfahrt nach Santiago. Da ist das beinah schrullig anmutende Tagebuch des Oberösterreichers Rudolf Gruber mit einer Sammlung unzähliger interessanter Einzelinformationen (Verlag Wimmer). Sein 1944 gegebenes Gelübde zur Wallfahrt nach Santiago löste Gruber 1975 ein und charakterisiert auf der letzten Seite seines Tagebuches den Weg nach Santiago paradoxerweise dadurch, daß er „unbeschreiblich schön" ist. Gruber ist ein (im besten Sinn des Wortes) frommer Katholik und gehört zu den österreichischen Pionieren der Reakti vierung des Jakobsweges.

Aber auch Nichtka-tholiken können fromm sein, wie der Bericht des leider schon verstorbenen Schweizer Pädago-gikprofessors Hans Aebli (Klett-Cotta) beweist. Er nennt die drei Monate der Fußreise mit seiner Frau im Jahr 1988 schlicht und abgeklärt „die glücklichste Zeit" seines Lebens. Bei Raymond Oursei findet sich ein ähnliches Pilgerbekenntnis: „Der Weg hat uns verwandelt!" Die Lektüre solcher Bücher beugt dem Mißverständnis vor, daß es sich bei der großen Fahrt nach Santiago um bestaunenswerten akrobatischen Tourismus handelt.

Selten nur bekommt man einen Pilgerbericht in die Hand, in dem die Erfahrung des Weges auch in theologischer Weise reflektiert wird. Das Büchlein des katholischen Pfarrers Roland Breitenbach aus Schweinfurt (Verlag Reimund Maier) bietet solche Reflexionen an, ohne gleich in eine abstrakte Genetivtheologie zu verfallen. Breitenbach, der auch sonst schriftstellerisch tätig ist, beschreibt, was jeder Jakobspilger von sich sagen wird: „Dieser Weg prägt mein Leben so, daß es für mich eine Zeit vor und die Zeit nach dem Weg gibt."

Das modernste Pilgerbuch stammt aber wohl vom niederländischen

Lyriker und Spanienkenner Cees Nooteboom und heißt bezeichnenderweise „Der Umweg nach Santiago". Nooteboom weiß viel von Geist, Geschichte und Realität des „Camino de Santiago" und weiß dennoch nicht, ob er ein gläubiger Mensch ist. Als Fragender und Suchender, als Einsamer macht er sich auf den Weg von Barcelona nach Santiago, folgt aber nie den Trampelpfaden, sondern macht sich die Mühe vieler Umwege, die ihn schließlich ans Ziel führen. Er faßt es wie ein Buch auf: „Je mehr man darin liest, desto dicker wird es."

Bleibt noch die dritte Gruppe des Literaturangebotes zum Jakobsweg, in der praktische Reise- und Kunst-führer zusammengefaßt sind. Auch hier ist die Auswahl etwas willkürlich. Einer der Motoren für das Wiederaufleben der Wallfahrt nach Santiago war der Pfarrer von O Cebreiro, Elias Valiiia Sampedro, der sich als Theoretiker und Praktiker um den „camino" kümmerte und mehrere Führer verfaßte. Eine dieser Broschüren mit wichtigen kartographischen Hinweisen für den Pilger ist „Der Jakobsweg", erschienen im Madrilener Edi-torial Everest. Von den vielen Karten zum Camino de Santiago ist die 1989 vom Europarat herausgegebene besonders informativ und nützlich.

In vielleicht ungewohnter Weise porträtieren Tonaufnahmen den mittelalterlichen Weg zum Jakobsgrab in Galizien. Die CD des Augsburger Ensembles für frühe Musik (Christo-phorus) kann für die Vorbereitung der eigenen Reise nach Santiago sehr hilfreich sein, genauso die Doppel-CD von Philip Pickett mit dem New London Consort (DECCA). Sehr zu empfehlen ist in diesem Zusammenhang auch eine Vertiefung in die Klangwelt des Gregorianischen Chorals. Gerade diese Gesänge lassen die Raumqualität der unzähligen romanischen Kirchen am Weg erkennen.

Fußwallfahrer können nur wenig mitnehmen. Als praktischen Reiseführer wird man ihnen „den Sing" (Verlag Via) empfehlen, weil dort auf knapp 290 Seiten alle für den Pilger wichtigen kunstgeschichtlichen und praktischen Hinweise zusammengetragen sind, wenngleich man dem Buch eine ansprechendere Gestaltung durch den Verlag wünschen würde.

Eine solche wurde Ulrich Wegners Wanderführer im DuMont-Verlag zuteil, der den spanischen Jakobsweg in der Hoffnung auf mehr Leser und Benutzer in 24 „Wanderungen" unterteilt, weil ja nur ganz wenige Menschen den Weg im Gesamten gehen (können). Dadurch gerät das Ganze etwas außer Sicht, wird das großartige historische Projekt ungewollt verniedlicht.

Nicht so bei Werner und Susanne Schwanfelder, die zwar auf das Element der Wanderung verzichtet, aber für Autotouristen einen sehr informativen und praktischen Reiseführer erarbeitet haben (Goldstadtverlag). Auch der Herder-Verlag legt zurrechten Zeit einen praktischen und gewissenhaft recherchierten Führer vor, der endlich auch auf die Fahrradpilger Rücksicht nimmt. Den neuesten der vielen durchaus gleichwertigen Kunst-und Kulturführer für Nordspanien hat Erhard Gorys im Münchner Artemis-Verlag herausgebracht.

Wer nun soll das alles lesen? Und warum? Zunächst sei festgehalten, daß es durchaus genügt, aus jeder Gruppe nur ein Buch herauszugreifen. Der Wunsch nach mehr wird sich von selbst einstellen und der Leser wird seinen eigenen Weg finden. Damit ist auch die Frage nach dem „warum?" beantwortet. Die vielen Bücher können die Erfahrung des Weges weder ersetzen noch übersetzen, aber sie können die große Sehnsucht im Menschen wecken und wachhalten, weiter zu gehen als er ist, sich wirklich auf den Weg zu machen. Und das ist sehr viel.

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