7170674-1982_44_15.jpg
Digital In Arbeit

Das Geschäft mit der Brutalität

19451960198020002020

„Das Abhacken von Armen und Köpfen ist nicht spannend,' es ist abstoßend", meint der Horrorfilm-Spezialist J. Carpen-ter. Aber auf der Filmleinwand wächst die Brutalität.

19451960198020002020

„Das Abhacken von Armen und Köpfen ist nicht spannend,' es ist abstoßend", meint der Horrorfilm-Spezialist J. Carpen-ter. Aber auf der Filmleinwand wächst die Brutalität.

Werbung
Werbung
Werbung

Wir schreiben das Jahr 1903. Edwin S. Porter zeigt in den USA seinen Stummfilm „The Great Train Robbery". Es ist dies der erste Wildweststreifen, gedreht nach einer Zeitungsmeldung. Ein Bahnüberfall mit Schießerei, Schwarzweiß-Blut ist nicht auszumachen. Die Getroffenen sak-ken schnell und mechanisch zusammen. Ein Bandit schießt direkt in die Kamera.

Fuhr das Publikum im Schreck zusammen? Schließlich war es bloß an Schauerdramen und Degenstücke im Theater gewöhnt. Zwar wurde auf der Bühne recht umständlich und mit langen Monologen gestorben, der naturalistische Todeskampf blieb aber1 dem befrackten Zuschauer erspart.

Es sind nahezu achtzig Jahre Filmgeschichte vergangen. Die Massenmedien haben ihren weltweiten Siegeszug angetreten — und nun wird lautstark, farbig und in Breitwand gemordet und gestorben.

Man ist heute abgebrüht und belächelt die harmlosen Gruselfilme der frühen Jahre. Heute jagt eine Horrorwelle die andere. Man zeigt uns blutrünstige Massakerfilme mit Poltergeistern, Voodoo-Zom-bies, erweckten Mumien, Wiedergängern, Untoten, debilen Massenmördern, i psychopathologi-schen Wissenschaftlern ä la Frankenstein und Kannibalen. Man zeigt uns Einzelgänger-Filme: Helden als gnadenlose Kampfmaschinen, die kaltblütig ihrer Umwelt den Garaus machen oder in einer wüsten Science-fiction-Welt die letzten Reste (bösen) Lebens hinwegfegen.

Während Gewalt und Brutalität in derlei Filmen „märchenhaft" bleiben und einem Kosmos angehören, der sichtlich der Phantasie entspringt — irreal trotz realistischer Mittel! -, schocken Streifen mit realistischen Themen, etwa Sadismus in der Alltagsweltt die Öffentlichkeit weit mehr. So entfachten Stanley Kubricks „Clock-work Orange" (1971) oder Filme von Don Siegel und Sam Peckin-pah, den „filmischen Propheten der Gewalt", heftige Diskussionen. Viele sehen in solchen Filmen den „Sittenverfall einer Endzeit".

„Apocalypse now" könnte das Motto vieler Filme der letzten Zeit sein.

In früheren Film-Zeiten befleißigte man sich realistischer „Stilisierungen". In einer Welt freilich, in der uns täglich via Fernsehen Krieg und Grauen international und live ins Heim gebracht werden, bleibt der Film nicht bei naiven Attrappen stehen. Die neue Tricktechnik und Masken-bildnerei erlaubt nahezu jeden Effekt: da quillt Plastikeingeweide, da poltern und explodieren Köpfe von den Schultern.

In Kriegsfilmen wird nicht mehr dezent abgeblendet und über Leichenhaufen hinweggeschwenkt. Heute fixiert die Kamera detailfreudig das zerfetzte Fleisch der Soldaten. Da ist Krieg kein Abstraktum und keine Metapher, sondern brüllendes Chaos und totaler Verlust der Menschenwürde.

Diese krasse Darstellung von Gewalt und Brutalität hat vieler-orten Kritik hervorgerufen. Man befürchtet zurecht eine „Verrohung" und „Entsittlichung" vor allem der Jugend, denn sie ist schließlich das Hauptpublikum.

„Saubere Leinwand" ist die Devise der Oststaaten. Kriminalroman und Gangsterfilm sind für sie „dekadente Produkte der spätkapitalistischen Gesellschaft". Im „realen Sozialismus" ist die Darstellung des Verbrechens unerwünscht. Auch im Dritten Reich galt der Kriminalfilm als verpönt.

In diktatorischen Systemen kann das Marginale und das von der Norm Abweichende kaum Gegenstand der Darstellung werden. Der Zuseher als Voyeur und Masochist, der sich freiwillig und mit Lust die Gänsehaut über den Rücken jagen läßt, wird wohl als unreif und verderbt angesehen.

Seit Jahren wird auch im Westen das Pifeblem der Aggression im Film heftig diskutiert. Als im BRD-Fernsehen die Krimi-Serien härter und realistischer wurden, begann man etwa 1969 bei „Derrick" zu entschärfen und die Fans auf Schonkost zu setzen. Ironisch sprachen Kritiker von der „Stunde der Märchenonkel" und daß unsere brutale Welt nicht verharmlost werden dürfe. Auch Österreich leistete seinen Beitrag. Der ORF erteilte 1974 einen diesbezüglichen Forschungsauftrag.

In den Kinos allerdings bevölkern weiterhin plündernde und vergewaltigende Jugendhorden („The Warriors") die Leinwand, zertrümmern Hunderte Kung-Fu-Nachfolger in den Hongkong-„Eastern" Mobiliar und Gegner, jagen Rocker in Ritterkleidung auf ihren „heißen Öfen" durch die Stadt.

Auch wenn diese Stoffe durch Sarkasmus entschärft sind — trostlos bleiben sie allemal. Nicht daß diese B-pictures unbedingt zur Imitation anregen — seelisch verblödend wirken sie bestimmt.

Das Spiel mit dem Schrecken ist allerdings Filmtradition und hat eine eigene Filmsprache entwik-kelt. In den sechziger Jahren reagierte Italien sehr witzig mit seinen „Spaghetti-Western" auf amerikanische Produkte. Zur markerschütternden Musik von Ennio Morricohe („Spiel mir das Lied vom Tod") wurden die Helden in Zeitlupe von Kugeln durchsiebt und präsentierten einen ästhetischen Todestanz, der seither zahllose Nachfolger gefunden hat. Motive wurden ins Irreale gesteigert („Django") und zum Blutopern-Spaß für spezielle Kino-Fans.

Der feine Cineast meidet die widerlichen Filme, in denen „Hexen bis aufs Blut gequält" werden, verzichtet auf die Sublimierung unterdrückter Sexualität in Aggression und belustigt sich über die Titel wie „Shaolin—die Todesfinger", „Die Nacht der reitenden Leichen", „Asphaltkannibalen".

Eine Statistik in Deutschland zeigt, daß in Video-Leihgeschäften nach Pornofilmen gleich die Kannibalen-Kassetten an zweiter Stelle rangieren—da möge sich jeder selbst seinen Reim darauf machen.

Immer schon hat es miserable Literatur gegeben; dieser Literatur entsprechen die miserablen Filme. Der Ruf nach Zensur ist falsch und unzeitgemäß, die absurde Geschichte der Filmzensur zeigt es uns. Gewalt und Brutalität sind archaische und archetypische Themen. Sie können auch Themen guter Filme sein, die uns betroffen machen und aufrütteln. In schlechten Filmen dienen sie einer grausam spielerischen Tricktechnik und der Angstentladung.

Viele Menschen wollen derlei — auch aus Geschmacksgründen — nicht im Kino sehen. Friedrich Nietzsche hat es gesagt: „Der Mensch erträgt sehr wenig Realität". Die Traummaschine Film rückt immer gnadenloser an unsere Phantasie und an unsere Realität mit Hilfe der Fiktion heran.

Josef Schweikhardt, ständiger Filmkritiker der FURCHE, ist Lektor für Audiovisuelle Medien an der Universität Wien.

Weitere Untersuchungen zum Thema: „Kriminalität, Brutalität und dargestellte Aggression im Fernsehen und ihre Wirkung auf die Öffentlichkeit". ORF-Wien 1974. J. Schweikhardt, „Sex und Gewalt im Film" in Maske u. Kothurn 3/4, 1979. W. Fritz (Hrsg.), „Brutalität u. Sexualität im Film", Schriftenreihe des Osterr. Filmarchivs, 1982.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung