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Das gesteigerte Leben

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Ea schien Theo plötzlich, als er sich an den Leiterholmen des Schützengrabens noch etwas heiteren Sinnes hochgezogen hatte, um nach der „Luft“ zu spähen, wie man ihm befohlen, daß aus Tag Nacht geworden war. Da — ein im Augenblick wahnsinniger Schmerz ließ ihn die Holme auslassen und zu Boden gleiten. Er verlor für wenige Minuten die Besinnung und erwachte erst, als eine Ratte über sein Gesicht gelaufen war. Während er sie ab- wehtren wollte, fühlte er wieder den Schmerz im linken Armgelenk. Hatte „es“ ihn erwischt? Mit der Rechten tastete er sich an der feuchten Erdwand zurück. Mit dem Rücken lag er im Schlamm. „Einstweilen liegen bleiben“, sagte jetzt jemand zu ihm, während er plötzlich ganz nah das unaufhörliche Geknatter von Maschinengewehren und die klatschenden Einschläge von Granatwerfern in der Nähe vernahm. „Liegen bleiben“, sagte die Stimme wieder und Theo kam es vor, als ob sie zitterte.

Ob es arg mit ihm war, er wußte es nicht. Er fühlte den Schmerz kaum mehr, dagegen überkam ihn wieder eine Benommenheit ähnlich einem Fiebernden. Ob er hier verkommen mußte? Er dachte ‘an Frieda und die kleine Daisy. Ihr Leben wäre gerettet, wenn er stürbe. *Er gehörte ja einer Rasse an, die es nicht geben dürfte. Aber gleich wieder sehnte er sich, die Seinen zu sehen und ihnen zu helfen. Er war überzeugt, daß es ihm gelingen würde. Es war ihm auch dieser Coup gelungen, daß er regelrecht diesen Sappeurtruppen eingeordnet wurde. Sie standen in der Nähe von Smolensk bei Walkowo. Angesichts der nahen gegnerischen Kampflinie machte man keine Umstände mehr, Theo war der Kompanie von der „Bewährung“ der OT-Gruppe zugelaufen und gleich behalten Worden, er hatte nicht erklären müssen, ob er Jude oder Verbrecher war; sie wußten nur, daß er zu allem zu gebrauchen sein würde und ihr Leben, das wußten sie ebenso, konnte schon morgen oder noch heute ein Ende haben, denn vermutlich stand ihnen ein ganzes Regiment von Feinden gegenüber.

Vielleicht war er auserwählt, das Opfer für sie alle auf sich zu nehmen, wenn er abgeknallt wurde, so dachten sie, aber nun lag neben ihm im Schlamm der erste Tote, von dem er noch keine Ahnung hatte. „Bleib liegen“, hatte man gesagt und jetzt erkannte er die Stimme des Feldwebels Mummenday, der aus Berlin stammte und einem Intelligenzberui angehörte. Niemand wußte genau, ob den eines Bibliothekars oder Archivars. Mummenday wollte sich zu Theo hinbewegen, als wieder ein Erdklumpen in den Graben flog und ihn zurückschleuderte. Er hatte schon ein paar ungute Situationen in diesem verdammten Krieg überstanden, aber wenn er es bedachte, so kläglich war er noch nicht auf die Probe gestellt worden. Mit sechs Mann in einem rasch aufgeworfenen primitiven Erdloch, gerade den Russen gegenüber, dem Verrecken preis- gegeben, wenn nicht in nächster Minute Sturmangriff befohlen wurde. Sturmangriff, es war eine fein ausgeklügelte Sache, den Menschen Mut zu machen, wie quälend war dagegen das feige, oft endlose Zuwarten im Verborgenen, jetzt und jetzl konnte man auch hier entdeckt werden, oder konnte von einer Granate zerrissen werden.

So aber stürmte man mit den andern — als einer von einer kleinen Schar — unter rauschhaftem Geschrei vorwärts, um niederzumachen, was sich einem entgegenstellte oder man erstarrte mitten im Sprung und fiel. „Wie beim Zauberer“, dachte Mummenday, der ein Bild vor Augen hatte: die beschwörenden Hände eines alten Mannes, deren Finger, wc sie hinzeigten, den Tod aussandten Doch er hatte dieses Bild in Wahrheit nie gesehen, er dachte nach. Was ihm vorschwebte, einer Bewegung plötzlich Einhalt zu gebieten, wie im Film durch die Zeitlupe … das war etwas ganz anderes. Die augenblickliche Situation hatte ihm nur ein Bild vorgegaukelt, das in keiner Weise zutreffend war. Er hatte an Mut gedacht und war dieser nicht eher die Mentalität eines Spielers der das Schicksal herausfbrdern mußte, und zwar mit dem ganzen Einsatz, statt fern vom Spieltisch zu bleiben. Er hatte bereits zweimal das große Los gezogen und man hatte sic später „Helden“ genannt — es wai alles Unsinn. Aber es war schön eine Tapferkeitsmedaille zu erhalten, die einem bescheinigte, daß man nicht feige war. Man war aufgeblasen mit etwas Stolz und Ehrgefühl,

wenn alles vorüber war, und nicht angefüllt mit schwärzlicher Düsternis. Er stellte sich dies so vor, wie die Umrisse von Figuren auf einem Zeichenblatt, die einen konnten hell bestehen bleiben, die anderen warteten nur auf die kleine Flut von Tusche, die sich in sie ergießen sollte. Langsam rückte sie vor, jetzt erdrückte sie das Herz und zuletzt unterschieden sich die kleinsten Andeutungen von Augen kaum mehr. Und doch lebten sie auch, wie ihre weißen Kollegen, die der Pinsel des Malers nicht berührt hatte, oder die Finger des Zauberers nicht trafen. Zauberers…

Wie dachte er plötzlich an Gott! Gott schritt draußen über die Unkrautfelder der wolhynischen Ebene und wählte seine Opfer aus. War es der beginnende Wahn, der ihn überfiel? Da lag ein Toter, neben ihm Theo Singer mit zerschlagenem Arm, und unter dem mit Reisig verdeckten Verschlag lagen drei seiner kleinen Gruppe, die sich nicht vorwagten und die vielleicht ähnliche Ged’ankengänge in diesen Minuten verfolgten. Es konnten vielleicht ihre letzten sein. Nicht gern warteten sie auf das „Faites votre jeu“ des „großen Croupiers“, wie er es sich ausdachte, die Vernachlässigung aller kleinen und unbedeutenden Verhältnisse und die Anheimstellung seines Ichs an die große Alternative.

Während er im Geiste das Wort „Anheimstellung“ auskostete, das er aus dem Schubfach der Bürokratie hinüberzüretten glaubte in die Poesie, erfüllte gewaltiger Lärm die ganze Landschaft. Die Deutschen waren zum Angriff angetreten. Mummenday schnellte hoch. Seine Stunde war gekommen. Er dachte an nichts mehr. Nur vorwärts. Neben ihm und vor ihm liefen ebenso Besessene oder Getriebene. Panzer fuhren nebenher, kaum, daß man sich ihrer bediente, um sich abzuschirmen vor den jetzt spärlicher auf sie eindringenden Geschossen.

Mummenday war allein aus der Grube gesprungen, er wollte die wenigen Leute, die er befehligte, nicht zum Heldentum zwingen. Sie mochten handeln, wie es ihnen recht schien. Es waren lauter ältere Leute, die zweite Garnitur an Streitern, mit denen nicht viel Aufhebens zu machen war. Er wurde, wenn es die Kampftage erlaubte, wieder zurückkehren in die Grube, um nach ihnen zu sehen, vor allem um Prehauser zu begraben und Singers Abtransport zur San-Station zu veranlassen …

Theo war ganz wach geworden. Über die Grube sprangen immer wieder Vorwärtsstürmende hinweg, ohne nach ihm zu sehen. Seine Opferrolle hatte mm ein anderer übernommen: Mummenday. Als er ihn aufspringen sah, war er erwacht. Er hatte einen Ausdruck in seinen Augen, den er nie an ihm wahrgenommen hatte. Er war wie der eines Fliegers, der feststellt, daß einer der Propeller mit erhöhter Geschwindigkeit durchging. Während des Getöses der vordringenden Sturmmasse fühlte es Theo still um sich. Es war wie an einem Maimorgen in der heimatlichen Landschaft, an dem man nichts als den Gesang der Lerchen und das dunkle Unken der Kröten hörte. Ungestörte Friedenstage. Der Sportflieger Theo Singer. Er sah sich mit Frieda in der Kanzel auf steigen, bald Höhe gewinnen und er hörte sie fragen, was ist dir lieber, die Erde — oder der Himmel, weil du immer zu ihm aufsteigst…? „Eine seltsame Frage“, hatte er geantwortet. „Mir ist darum die Erde lieber als vielen, die sich nie von ihr erheben. Ich höre dann, zurückgekehrt zu ihr, die Lerchen schöner trillern und die Kröten unheimlicher unken.“ — „Tust du das?“ hatte sie gefragt und als er nickte, hatte sie erklärt mit der unbefangensten Miene von der Welt: „Dann muß ich es jetzt auch tun. Vielleicht gefällt’s mir.“

Ob es ihr nicht gefiele, das gesteigerte Leben? War es nicht das an ihr, das ihn anzog? Ich werde hier nicht verbluten, sagte er sich und wollte sich mit der gesunden Rechten aufrichten. „Bleib liegen Trottel“, sagte da jemand leise. Es war eine andere Stimme als die Mummen- days. Es war die des „Putz“ Libos- war aus Wien, der sie täglich alle beschimpfte und dafür umsonst rasierte. Ein Wienei Friseur, dessen grobe Liebenswürdigkeit sich also auch jetzt freundlich erwies. Er schlich sich zu ihm, anscheinend glücklich, eine Gelegenheit gefunden zu haben, nicht aus der Grube springen und sich den Vorwärtsstürmenden anschließen zu müssen. „Zeig her, dein depperten Arm.“ Er hatte ein Verbandspäckchen aufgerissen und versuchte nun langsam und gründlich seine Samariterdienste.

Als man Theo bei der San-Staffel fragt, wohin er gehöre, antwortete er: „Wien.“ Er hätte auch Hildesheim oder Heidelberg sagen können, wo er Frieda nicht erschrecken und auch weniger gefährden könnte. Er hätte, so dachte er, aber…

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