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Das Gewissen der Worte

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Mit fünfzig Jahren war er -außer bei einigen besonderen Kennern, von Thomas Mann abwärts - noch so gut wie unbekannt, obwohl ein Roman und etliche Dramen vorlagen. Als er vor rund zwanzig Jahren bei der österreichischen Gesellschaft für Literatur im Wiener Palais Wil-czek zum erstenmal vorlas, waren etwa dreißig Zuhörer anwesend, bestimmt nicht lauter Canetti-Kenner, sondern zum Teil jenes Stammpublikum, das damals so gut wie jeden dieser Gratis-Abende besuchte, um sich zu informieren oder auch bloß aus Neugier.

Fast so viele Länder aber streiten jetzt oder könnten um Canetti streiten wie einst Städte um die Herkunft Homers. Denn unser Autor wurde 1905 in einem Landstrich Bulgariens geboren, der dann zur Türkei gehörte, er war noch nicht schulpflichtig, als die Familie nach England übersiedelte, nach dem unerwarteten Tod des Vaters ging die Mutter mit den zwei Söhnen in die Schweiz, als Jugendlicher kam er — noch immer mit türkischem Paß - nach Frankfurt und Wien, mußte 1938 nach England emigrieren, wb ihm — nachdem er staatenlos geworden war - die britische Staatsbürgerschaft verliehen wurde, die er noch immer besitzt. Er lebt heute abwechselnd in der Schweiz und in England.

Immer jedoch hat er ausschließlieh deutsch geschrieben, und das ist originell genug; denn in seinem feudal-jüdischen Großelternhaus, wo er die früheste Kindheit verlebte, sprach man untereinander spanisch und nur mit dem Personal bulgarisch.

Canettis Eltern freilich, die einander im Wiener Burgtheater kennengelernt hatten, redeten deutsch miteinander - ohne daß der Knabe das verstand. Das Kind lernte dann in Manchester ohne-weiters Englisch, in der Schweiz zunächst Französisch und erst mit acht Jahren Deutsch, binnen kürzester Zeit unter dem Druck der Mutter.

Ist Elias Canetti also ein „deutscher Autor”? Nein, man weiß es von ihm selber: Er fühlt sich als österreichischer Schriftsteller, obwohl er niemals österreichischer Staatsbürger war.

Oberflächlich betrachtet, könnte man seine Bühnenwerke dem absurden Theater zurechnen; genauer gesehen erweisen sie sich als späte Nachfahren szenischer Abrechnung in der Art Johann Nestroys. Die furchtbare Brandkatastrophe um den Wiener Justizpalast 1927 hat ihren Widerschein in dem Roman „Die Blendung”, gehört zu den entscheidenden Anregungen des kulturkritischen Hauptwerkes „Masse und Macht”, und es hat triftige Gründe, daß ein bekenntnishafter Essay Canettis den Titel führte: „Warum ich nicht wie Karl Kraus schreibe”. Denn „Die Fackel im Ohr” heißt nicht nur der zweite Band der Autobiographie, Canetti hatte den Tonfall von Kraus derart im Ohr, daß es aller Anstrengung bedurfte, um dem Vorbild künstlerisch nicht hörig zu werden.

Skandale an der Burg

Wer sowohl Karl Kraus als auch Elias Canetti auf dem Podium erlebt hat, mußte verblüfft sein analoges Können bewundern, vom Vortragstisch aus ein ganzes Stimm-Ensemble lebendig werden zu lassen. Wie Nestroy, Karl Kraus oder Horväth läßt er die Figuren zu Wort kommen, sie reden, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist, und diese kunstvolle Demonstration kann im Publikum Panik hervorrufen.

Gewiß, seit er den Nobel-Preis erhielt, seit es von überall her Preise auf ihn hagelt — spät, aber doch und sogar bei uns: der erste kam schon 1949, aber aus Paris -, ist er im Munde aller Wortführer, und hoffentlich stehen seine (in zwei Dutzend Sprachen übersetzten) Werke auch in der Bibliothek wenigstens des besseren deutschsprachigen Lesers. Bei Aufführungen seiner Stücke gab es in unserem Sprachgebiet Skandale, in Wien immerhin skandalöse Anrufe beim Burgtheater. Es waren

Elias Canetti: Reden, wie der Schnabel gewachsen ist (Votava) wohl Leute, die sich betroffen fühlten. Seine Komödien sind scharf karikierende Volksstücke, die nicht etwa den biederen Hausmeister anprangern, sondern einen mit gefährlicher Biederkeit agierenden Hausmeistergeist.

In den letzten dreißig Jahren ist es große Mode geworden, dramatisch oder prosaisch die Mitwelt zu schockieren, und mancher Autorenruhm lebt recht gut von seinem schimpflichen Ruf: Wer schimpft, der kauft. Doch wäre es völlig verfehlt, derlei Spekulationen auf Canetti anzuwenden. Er ist und war niemals modisch, liebt die Zurückgezogenheit und weigert sich zum Beispiel beharrlich, seine weiteren Bühnenwerke zu veröffentlichen, die er fertig in der Lade hat, solange die gedruckten nicht genügend akzeptiert wurden. Sogar die Vorlesung eigener Schriften hat er aufgegeben, eine Betätigung, der er sich schon in den dreißiger Jahren leidenschaftlich befleißigte - ganz wie einst Karl Kraus.

Widerstand dem Tod

Brennpunkte seines breiten Arbeitsfeldes waren immer: der Massenmensch einerseits, der verhaßte Tod anderseits. Ihm Widerstand zu leisten, ist wohl der tiefere Sinn von Elias Canettis Leistung im letzten Jahrzehnt. Die drei autobiographischen Bände „Die gerettete Zunge”, „Die Fackel im Ohr” und (vor einigen Monaten) „Das Augenspiel” rekapitulieren alles unvergänglich Vergangene vital und reichen von der frühesten Kindheit bis zum Tod der Mutter (1937) — keine Memoiren im banal gewordenen Sinne des Wortes, sondern ein urmenschlicher, strikt subjektiver Rückblick, eher „par coeur” als aus dem Gedächtnis konzipiert. Immer geht es bei ihm um „Die Befristeten”, stets war er „Der Ohrenzeuge”, und „Das Gewissen der Worte” (1975). könnte der Arbeitstitel seines Lebenswerkes sein.

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