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Das Gewissen Rußlands

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Das Entstehen einer bewußten, intellektuell begründeten Abwehrhaltung gegen die inhumanen Deformationen des sowjetischen Lebens, wie sie sich in den letzten 10 bis 15 Jahren herausbildete, wäre undenkbar ohne die Existenz der russischen Intelligenz. Obwohl durch Revolution, Bürgerkrieg und die stalinistischen Säuberungen in entsetzlicher Weise dezimiert, spielte die Intelligenz doch weiter ihre historische Rolle, die sie bereits in den vorangegangenen beiden Jahrhunderten auf sich genommen hatte: die Rolle des Gewissens der Nation.

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Das Entstehen einer bewußten, intellektuell begründeten Abwehrhaltung gegen die inhumanen Deformationen des sowjetischen Lebens, wie sie sich in den letzten 10 bis 15 Jahren herausbildete, wäre undenkbar ohne die Existenz der russischen Intelligenz. Obwohl durch Revolution, Bürgerkrieg und die stalinistischen Säuberungen in entsetzlicher Weise dezimiert, spielte die Intelligenz doch weiter ihre historische Rolle, die sie bereits in den vorangegangenen beiden Jahrhunderten auf sich genommen hatte: die Rolle des Gewissens der Nation.

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Im 19. Jahrhundert wurden die hervorragendsten Vertreter der Intelligenz verfemt, mißhandelt, bestenfalls geduldet. War doch damals der bloße Gebrauch von Wörtern wie „Mitbürger, Portschritt, Solidarität“ durch zaristischen Ukas verboten. Auch heute liegen die Dinge nicht viel anders, nur die Tabus haben sich geändert. Die vorsätzliche oder indirekte physische Liquidierung der Intelligenz — denn auch im Krieg stand sie an vorderster Front — hat jedoch weder zu ihrem Verschwinden als eigenständiger Schicht noch zu einer zahlenmäßigen Verringerung geführt. Denn durch die Demokratisierung, welche das sowjetische Bildungssystem mit sich brachte, wurde die Intelligenz ständig mit jungen Menschen aufgefüllt, die keineswegs aus gebildeten Familien stammten. Um nur ein Beispiel zu nennen: Alexander Solschenizyn stammt aus einfachen provinziellen Verhältnissen und genoß eine durch und durch sowjetische Bildung. Als gesellschaftliche Schicht spielt die russische Intelligenz heute eine zweifache Rolle: einerseits bewahrt und tradiert sie das kulturelle Erbe der Vergangenheit, wobei das im 19. Jahrhundert von Literatur und Philosophie herausgearbeitete humanistisch-liberale Menschenbild im Mittelpunkt steht.

In Häusern der Intelligenz liest man Tschaadajew und Soioview (Tschaadajew, ein Zeitgenosse Puschkins, war ein äußerst interessanter und origineller Gesellschaftstheoretiker, der übrigens vom zaristischen Regime für verrückt erklärt wurde); die Gedichte Boris Pasternaks, Osip Mandelstams, Anna Achmatovas — auch die unveröffentlichten — werden gelesen und vorgetragen, es finden inoffizielle Lesungen der Werke Solschenizyn«, der Erinnerungen Nadjeschda Mandelstams, ja sogar des Buches von Svetlana Allilujewa statt. Anderseits wird dieses humanistische Ideal durch ständiges Reflektieren über die sowjetische Realität ununterbrochen verifiziert, wodurch das Bewußtsein für soziale Ungerechtigkeiten, bürokratische Unterdrückung des Individuums und den vielfältigen Gesinnungsterror geschärft wird. Es darf auch nicht vergessen werden, daß das inoffizielle Nachrichtensystem der Intelligenz ausgezeichnet funktioniert: jede Verhaftung, Entlassung, jede neue interne Zensurbestimmung oder das Verbot eines literarischen Werkes spricht sich schnell herum und führt zur moralischen Unterstützung des Betroffenen.

Die Zugehörigkeit zur Intelligent hat allerdings kaum etwas mit der akademischen Bildung zu tun. Wenn in offiziellen sowjetischen Publikationen das Anwachsen der „sowjetischen Intelligenz“ betont und mit Zahlen belegt wird (etwa so: 30 Prozent der 30- bis 40jährigen Sowjetbürger haben Hochschulbildung), so handelt es sich dabei eben um Hochschulabsolventen, nicht aber um Angehörige der Intelligenz, was ein feiner Unterschied ist, Die zahlenmäßige Bedeutung der Intelligenz kann nicht In Prozenten der Bevölkerung, sondern höchstens in Promillen ausgedrückt werden. Die Intelligenz sammelt sich in den drei Hauptstädten Moskau, Leningrad, Kiew, in der Provinz ist sie bedeutungslos, auf dem Dorf, in den riesigen russischen Weiten, fehlt sie völlig.

Die Intelligenz als gesellschaftliche Schicht ist nicht im politischen Sinn«

als Opposition einzustufen; wenn sie auch mehr oder weniger oppositionell eingestellt ist, so handelt sie doch nicht so. Sie ist auch nicht mit einer schöpferischen Weiterentwicklung ihres Ideals und einem Umdenken der vorhandenen Realität befaßt. Sie stellt jedoch den geistigen und materiellen Nährboden dar, der solchen Aktivitäten die Möglichkeit gibt, sich zu entfalten.

Diese Tätigkeit — das Aufzeigen der Wahrheit, die Entlarvung der offiziellen Dogmen und ihrer bewußtseinseinengenden Funktion, die Entwicklung neuer Möglichkeiten gesellschaftlicher und individueller Existenz — ist das Feld der Künstler, der Dichter und Schriftsteller. Ende der fünfziger Jahre trat eine Reihe von jungen Dichtern und Schriftstellern Wie Jewtuschenko, Wosnessensklj, Aksionov, Okudsha-wa mit Werken an die Öffentlichkeit, welche den Protest der Jugend gegen die Phrasen und Klischees des sowjetischen Lebens und gegen die von der älteren Generation weiterhin geübten stalinistischen Praktiken zum Ausdruck brachten. Jewtuschenko zog mit Gedichten wie „Stalins Erben“ gegen unselige Traditionen zu Feld, mit dem Poem „Babij Jar“ stach er ins Wespennest des sowjetischen Antisemitismus. Wosnessenskij brachte mit seinem New Yorker Poem „Die dreieckige Birne“ den Geruch der großen weiten Welt in die Sowjetliteratur, Aksi-ono beschrieb in seinen Romanen die Verlorenheit von Jugendlichen, die ein Leben abseits der offiziellen Bahnen suchten.

Obwohl der größere Teil dieser Literatur einen rein deklamatorischen Charakter trug, waren die Gedichte und Romane jener Zeit doch sehr wichtig, da sie entscheidend zur Solidarisierung der Jugend und dem Entstehen einer neuen optimistischen Lebenshaltung beitrugen. Heute ist Jewtuschenko ins Establishment abgewandert, Wosnessenskij und Aksionov werden kaum noch gedruckt, der Dichtersänger Okudshava, dessen zur Gitarre vorgetragene Gedichte und Balladen von Millionen nachgesungen wurden, ist völlig In den Untergrund abgedrängt. Hier sein damals entstandenes, iroroisch-resignlerendes „Liedchen vom schwarzen Kater“, das auf Stalins Schnurrbart anspielt:

Nah der Tür zur finstren Treppe, auch als Hintertür bekannt, lebt im Haus ein schwarzer Kater, der dort seine Wohnstatt fand.

Hämisch lacht er in den Schnurrbart,

Schild ist ihm die Dunkelheit,

Alle Kater singen, weinen, nur der schwarze Kater schweigt.

Qrinst in seines Schnurrbarts Haare, fängt schon lang mehr keine

Maus — legt uns unsre eignen Wort, ein Stück Wurst als Fallstrick aus.

Nur sein gelbes Auge funkelt, bittet nicht um Speis und Trank. Jeder kommt von selbst gegangen, bringt sein Teil und sagt ihm Dank.

Ohne einen Laut zu geben ißt und trinkt er ungerührt. Kratzt die Kralle an der Treppe, schaudernd es die Kehle spürt.

Und es ist wohl sicher darum, daß im Haus der Frohsinn fehlt. Eine Lampe sollte brennen — Doch wann sammeln wir das Geld?

In der bildenden Kunst lagen die Dinge von vornherein anders. Hier existieren ganz besonders feste Richtlinien und ihre Übertretung konnte von den Kunstbeamten leicht und sicher festgestellt werden. Jedes Kunstwerk, welches in Farbe, Formgebung, räumlicher Anordnung oder durch unkonventionellen Charakter der dargestellten Gegenstände (etwa ein Akt!) nicht der „Wirklichkeit“ des sozialistischen Realismus entspricht, wird für „formalistisch“ und „dem sowjetischen Volk fremd“ erklärt. Da jedoch die Kunsttradition der zwanziger Jahre, die von Künstlern wie Kandinskij, Malewitsch, El Lissitzkij geschaffen worden war, im Rußland der Stalin-Zeit fast völlig abriß, war es ein Wunder, daß solche Werke überhaupt entstanden.

Es ist dem persönlichen Mut und der intellektuellen Kraft einiger weniger Künstler wie den Malern Ullo Sooster, Oskar Rabin, dem Bildhauer Ernst Neiswestnyj zu verdanken, daß heute eine ganze Plejade junger Künstler In geistiger Unabhängigkeit vom sozialistischen Realismus arbeitet. Sooster und Rabin hatten lange Jahre in Stalins Lagern verbracht, Neiswestnyj war als Achtzehnjähriger für vier Jahre in den Krieg gezogen und zweimal schwer verwundet worden. Sie scherten sich nicht um die hinterhältigen Drohungen der Bürokratie. Heute sind die Ateliers der jungen Künstler ein Sammelplatz der Intellektuellen und auoh der Jugend. Jeder kann kommen und durch Sehen lernen, denn das Malen moderner Bilder ist nicht verboten, nur das Ausstellen.

Die heutige Situation in der Literatur läßt sich am besten mit den Worten des Physikers und Bürgerrechtlers Andrej Sacharow charakterisieren — „Erschöpfung, Apathie, Zynismus“ herrschen in der offiziellen literarischen Sphäre. Nur im Samisdat (Selbstverlag) erscheinen heute Werke, die als Resultat einer intensiven, echten Auseinandersetzung mit der sowjetischen Realität entstanden. Eine interessante Tatsache läßt sich allerdings feststellen: sieht man von der großen Ausnahme Solschenizyn ab, so sind es seltsamerweise vor allem Gedichte, In denen diese Auseinandersetzung am konsequentesten geführt wird. Zwar wird auch viel Prosa geschrieben, vor allem Erzählungen, doch reicht sie an Qualität und Reichtum der Innovationen nicht an die Poesie heran.

Die dichterischen Mittel, mit denen die inoffiziellen russischen Dichter gegen die deformierte Realität vorgehen, reichen vom schwarzen Humor über die satirische Collage und einen radikalen Purismus bis zu einer äußerst komplexen Bildersprache, welche sich naturwissenschaftlicher und philosophischer Abstraktionen gleichermaßen zu bedienen weiß.

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