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Das große Experiment des Menschseins

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Kaum ein anderer Dichter und Philosoph Amerikas wurde so geliebt wie Henry David Thoreau, geboren 1817, gestorben 1862. (Die Kinder seiner Vaterstadt Concord im Staate Massachusetts haben am Todestag „ihres Klassikers“ schulfrei.) Er wirkte und wirkt nachhaltig auf die Literatur seines Landes (etwa Dreiser, Steinbeck, Hemingway, Wolfe, McCarthy und andere), auf einen Teil der amerikanischen Jugend, und das weit tiefer als der Hermann-Hesse-Kult mit seinem „Steppenwolf“. Europäer und Asiaten nutzten sein Werk und ließen sich von ihm beeinflussen. Thoreau sah das Zeitalter der Massen, Maschinen und der Konformität voraus; er wehrte sich gegen das Hereinbrechen der Busineß- und Erfolgs-Götzen mit ihrem Marktlärm, ihren Konkurrenzkämpfen, ihrer Händlermoral. Er mied sie im passiven Widerstand, verweigerte dem Zeitgeist Gehorsam, ein Empörer gegen Falschheit und Unrecht.

Die Lehre dieses Romantikers, Anarchisten und Utopisten war wenig dazu angetan, Amerika jenem schaffenden Lebensideal zuzuführen, mit dem es in den kommenden hundert Jahren siegen wollte. Er lehrte, daß der Mensch einen Tag arbeiten und sechs Tage einem sinnvollen Müßiggang widmen sollte. Er dachte dabei nicht an sinnleeres Nichtstun. („Ein Augenblick wahres Leben kostet viele Stunden, nicht Stunden der Geschäftigkeit, sondern des Bereitmachens ... Unendliche Muße erfordert es, ein einziges Phänomen zu würdigen.“) Um zu beweisen, daß der Mensch weder zu produzieren noch zu tauschen braucht, zimmerte und baute sich der 27jährige mit eigenen Händen ein Blockhaus am Waldsee auf einem Grundstück Emersons (etwa vier Kilometer von Concord) für achtundzwanzig Dollar und zwölfeindrittel Cent, erntete Bohnen, klaubte Kartoffel und las den Tieren des Waldes seine Gedichte vor. Er war ein guter Rechner, aber nicht, um reich und bequem zu werden, sondern die ausgewiesenen Zahlen in lächerlich kleinen Beträgen („Fuhrlohn 1,40 Dollar. Das meiste trug ich auf meinem Rücken.“) sollten ihm nur zeigen, wieviel Geld er brauchte, um ein unabhängiges Leben ganz für den Geist zu führen, um die volle Entfaltung der Persönlichkeit in Freiheit mit dem geringsten Aufwand zu erreichen. „Vereinfachen! Vereinfachen!“ war sein Losungswort, das er lebte, Verkörperung eines unamerikanischen Amerikanismus gegen jeglichen Konsumzwang. „Laß deine Geschäfte zwei oder drei sein, sage ich dir, und nicht hundert oder tausend; statt eine Million zu zählen, zähle ein halbe Dutzend und führe Buch auf einem Daumennagel!“

Solche Sätze stehen in „Waiden“, worin er die 26 Monate seiner Waldeinsamkeit und seine Naturerlebnisse beschrieben hat. Er filterte dazu aus vierzehn Tagebuch-Bänden die Essenz der Sätze, die sein Wesen läuterten und erläuterten, überzeugt, daß er dem Phänomen Mensch am nächsten käme, wenn er sich selbst zu entdecken suchte. Und wenn dieser seltsamste aller Amerikaner irgendwo in seinem „Waiden“ verrät, warum er in die Wälder gegangen war, dann spürt man, daß hier kein kulturpessimistischer Waldmensch oder naiver Naturschwärmer, kein Nachfolger Rousseaus spricht, sondern ein großer Non-formist, ein Philosoph und ein bisweilen das Mystische streifender Dichter, dessen ganzes Streben darauf gerichtet war, eine umfassende Kultur mit einem frei gewählten Lebensweg zu verbinden. „Der Geist“, schreibt er in seinem Tagebuch, „ist ein Beil. Es schneidet und spaltet Sich den Weg in das Geheimnis der Dinge“.

Als die Vereinigten Staaten den Angriffs- und Beutekrieg gegen Mexiko begannen, wollte er seinen Mitbürgern zeigen, wie man diesem Unrecht und Gewalt begehenden Staat den Gehorsam aufkündigen kann.

Thoreau verweigerte die Kopfsteuer. Daraufhin wurde er (von einem ihm befreundeten Polizisten) verhaftet und ins Gefängnis eingeliefert. Er verbrachte dort bloß eine Nacht, weil eine Tante, entsetzt über den Familienskandal, die geringfügige Steuersumme für den Neffen erlegte. In dieser einen Gefängnisnacht entwarf er seinen Essay Über die Pflicht zum

Ungehorsam gegen den Staat (gleichfalls im Diogenes Verlag erschienen). Das Buch wurde bald berüchtigt-berühmt und hatte weltweite Wirkung. So las Mahatma Ghandi in einem britischen Gefängnis Thoreaus Schrift, die ihn in seiner Idee des gewaltlosen Widerstandes bestärkte. Die Gefängnisepisode (1846) hatte Thoreaus Denken und sein weiteres Leben entscheidend verändert. Er trat nicht nur in Versammlungen gegen die Sklaverei auf, sondern verhalf auch entlaufenen Sklaven, unterzutauchen. Den Zeitkritiker in ihm riß das rastlos werdende Amerika — und nicht nur Amerika — zu düsteren Prophezeiungen hin, die sich alle erfüllt haben.

Die sympathisch schlichte und handliche Taschenbuchausgabe von „Waiden“, trefflich übersetzt und mit klug einführenden Stichworten und Anmerkungen versehen, sollte zu einer Wiederentdeckung Thoreaus beitragen. Er gehört zu jenen — es sind nicht gar viele — die sich und die Welt vornehmlich durch klares Denken — was bei ihm mehr ein Schauen, ein Dichten war — „eroberten“ und dem im Bewußtsein von der Einmaligkeit unseres Daseins zugleich eine besondere Intensität des Ausdrucks verliehen war.

WALDEN ODER DAS LEBEN IN DEN WÄLDERN. Von Henry David Thoreau. Aus dem Amerikanischen von Emma Emmerich und Tatjana Fischer. Vorwort und Anmerkungen von W. E. Richartz. Diogenes-Verlag, Zürich. 341 Seiten. sFrs 9.80.

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