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Das „Große Fressen“

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Keine der drei großen monotheistischen Weltreligionen, die im Vorderen Orient entstanden, nimmt das ihnen allen gemeinsame Fastengebot so ernst wie der Islam. Juden und Christen fasten viel weniger als die Moslems. Der Koran auferlegt ihnen einen ganzen Fastenmonat, den Ramadan. Der Ramadan ist die große Zeit der Selbstreinigung vor der alljährlichen Pilgerfahrt nach Mekka. Der Prophet Mohammed kannte seine Gläubigen. Doch er kannte sie nicht gut genug. In der Zeit, in der man einen schwarzen von einem weißen Faden unterscheiden kann, darf kein frommer Muselman essen, trinken, ausspucken, rauchen oder Geschlechtsverkehr haben. Vier- bis fünfhundert Millionen Gläubige in der Welt vom Atlas bis zum Hindukusch halten sich auch im vierzehnten Jahrhundert islamischer Zeitrechnung noch immer strikt an dieses Gebot — von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Doch kaum ist die Sonne hinter dem Firmament verschwunden, vielerorts wird das durch Böllerschüsse angekündigt, beginnt das „Große Fressen“.

Im Ramadan spielen, konstatieren nicht-muselmanische Reisende immer wieder konsterniert, alle Moslems verrückt. In diesem Monat besteht, wie die historische Erfahrung zeigt, in allen muselmanischen Ländern gesteigerte Revolutionsgefahr. Viele arabische Potentaten verloren schon im Ramadan Macht und Leben. In einem Ramadan begannen die Araber bekanntlich ihren vierten Krieg gegen Israel. Der diesjährige Ramadan wurde im Libanon der Beginn eines fürchterlichen Blutbades.

Der Prophet scheint seinen Gläubigen mit diesem Monat zuviel zugemutet zu haben. Das zeigt sich auch im täglichen Leben. In Kairo beispielsweise brechen im Ramadan regelmäßig die Postzustellung und der Straßenverkehr zusammen. Übermüdete und hungrige Autofahrer verursachen am laufenden Band Verkehrsunfälle. In Fabriken und Büros wird bestenfalls mit halber Kraft gearbeitet. Die Produktionsausfälle sind katastrophal für die ohnehin unterentwickelte Volkswirtschaft. Doch alle staatlichen Versuche, die Ramadan-Bräuche den Zwängen der modernen Industriegesellschaft anzupassen, scheiterten am Beharrungsvermögen der Gläubigen. Hier versagte sogar die sozialistische Diktatur des Gamal Abdel Nasser.

Mohammed, selbst nicht gerade ein Ausbund von Askese, überschätzte offenkundig die Seelenstärke der Bewohner des Dar el-Islam. Schon Stunden, bevor der obligate Böllerschuß ertönt, beschäftigen sich die Hausfrauen hingebungsvoll mit der Vorbereitung der allabendlichen Festmähler. Das ist so in Kairo wie in Rabat, in Aden wie in Bagdad. Im Bürgerkrieg konnte man im Libanon bei Einbruch der Dunkelheit stets ein Abflauen der Schießereien feststellen, und nur einige verständnislose christliche Heckenschützen, die sich ja auch tagsüber hatten sattessen können, störten völlig humorlos das muselmanische „Große Fressen“.

Der Ramadan bringt regelmäßig die Versorgungspläne der arabischen Regierungen ins Wanken. Ägypten allein verzehrt in dieser Zeit die gesamte Hammelaufzucht des Sudan aus einem einzigen Jahr. Schiffs-und Flugzeugladungen voll von Reis, Bohnen, Zucker, Kaffee, Tee, Früchten müssen aus aller Herren Länder herbeigekarrt und mit harten Devisen bezahlt werden.

Lange bevor die Imame mit dem abendlichen Gebetsruf das Ende des Tagesfastens verkünden, sitzen Arme wie Reiche wartend vor den festlich gedeckten Tafeln. Kaum ist der erwähnte Böllerschuß verhallt, beginnt das „Große Fressen“. Kliniken und Ärzte haben in dieser Zeit nicht umsonst Hochbetrieb. Die Zahl der Patienten mit Magen-, Gallen-und Nierenkoliken, steigt sprunghaft in die Höhe. Die Gläubigen rächen sich für das Fasten an sich selbst, in dem sie sich schlicht überfressen.

Doch das ist keineswegs alles. Die Nacht gehört den Vergnügungen. Alle Moscheen sind festlich mit bunten Lichterketten geschmückt. Überall gibt es Zirkusdarbietungen, Gaukler, Feuerfresser, Bärenführer, Löwenbändiger und Pantomimen treten auf, und jeder macht die Nacht zum Tag. Typisch für die orientalische Art der Volksbelustigung ist das weltberühmte Kaffeehaus el-Fischaui am oberen Ende des geheimnisvollen Kairoer Basarviertels el-Khan el-Khalili, im Schatten der ehrwürdigen Moschee von el-Ashar, dem „Vatikan des Islam“. Das Kaffeehaus ist ebenso alt wie die Moschee, und seit tausend Jahren ein gesuchter Treffpunkt arabischer Intellektueller. Hier sitzen die Schaulustigen die halbe Nacht lang dicht gedrängt auf wackligen Stühlchen vor ihrem grünen Tee mit dem unnachahmlichen Aroma oder dem süßen heißen arabischen Kaffee mit einer Prise Kar-damom, rauchen die Nargileh (Wasserpfeife) und lauschen den Märchenerzählern. Fliegende Limonadeverkäufer schenken selbstgebraute erfrischende Getränke ein. Zum Schluß läßt man sich noch aus der Hand oder aus dem Kaffeesatz die Zukunft lesen. Erst im Morgengrauen bricht man auf und begegnet schon den mit sogenannten „Ramadan-Laternen“ und einer kräftigen Stimme ausgerüsteten Ausrufern, die zum letzten Mahl zum Wiederbeginn des Fastens auffordern. Zu Hause ißt man sich also nochmal rasch satt. Die Zahl der Kinder, die ein Dreiviertel]ahr nach dem jeweiligen Ramadan das Licht dieser Welt erblicken, einer Welt, die zu leben und sich selbst in den schwierigsten religiösen Vorschriften einzurichten versteht, ist Legion.

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