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Das große grüne Buch des Propheten Gaddafi

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Noch bevor Gaddafi gegen Gaddafi putschte und die Republik in eine „Sozialistische Arabische Volksgemeinschaft” umwandelte, haben die libyschen Botschaften in Bern, Bonn, Brüssel und Wien Redaktionen, Rundfunkanstalten, Regierungsämter und Privatpersonen mit einer deutsch- arabischen Propagandafassung von Muamar al-Gaddafis „Al-kitab al-ach- dar” - „Das grüne Buch” überschwemmt, das in den meisten arabischen Ländern zur streng verbotenen Lektüre zählt. Allerdings handelt es sich dabei nur um das erste Kapitel des vom Staatschef Libyens geplanten Monumentalwerkes, das erschöpfende Antwort auf alle politischen, wirtschaftlichen und sozialen Fragen unserer Zeit geben soll. Während Gaddafi in der Zurückgezogenheit seines „Meditationszeltes” jede freie Stunde und fast alle Nächte über der Abfassung der weiteren Teile verbringt, nennt sich d ieses erste Kapitel stolz „Haula muschküa al-dimoqratija - sulta al-schaab” - „Lösung des Demokratieproblems - Die Macht des Volkes”.

Libyens „Lösung des Demokratieproblems” ist dabei keineswegs nur ein neuer Versuch, den ungebrochenen Ehrgeiz der Führung, ihr Streben nach Auslandsbeachtung und -gefolg- schaft zu befriedigen. Der „al-kitab al-achdar” ist in Libyen selbst von der Grundschule bis zu den Universitäten zum Lehrbuch Nummer eins geworden. Das gilt besonders für die Mädchenschulen, da die libysche Revolution in ihrer neuesten Phase die weiblichen Wesen des Landes nicht nur entschleiert hat, sondern ihnen auch eine besondere, wenn nicht die führende Rolle in Staat und Gesellschaft Einerziehen will. An den höheren Mädchenschulen von Tripolis ist es Muamar al-Gaddafi persönlich, der den Vortrag seiner Ideologie in zweistündigen Abendkollegien in die Hand genommen hat Vergeht auch die Hälfte der Zeit über preisenden Sprechchören und spontanen Anhimmelungen der dem schwarzlockigen Revolutionsheros entgegenfliegenden Herzen, so kommt Muamar doch zu schematischen Zeichnungen an der Klassentafel, zu einem längeren Exkurs und - nach der Pause - zu Prüfungsfragen, zum Einsammeln der Hausarbeiten und zur Bekanntgabe neuer Aufsatzthemen. An einem feuchtkalten Abend im ehemalgen Töchterpensionat italienischer Klosterfrauen etwa lautete die Preisfrage: „Warum sind Volksabstimmungen eine Verfälschung der direkten Demokratie?” Viel geschmeidiger und überzeugender als in der plumpen deutschen Übersetzung des „Grünen Buches” verkündet Gaddafi:

„Meine Töchter! Das politische Hauptproblem, dem sich die mensch liche Gesellschaft gegenübersieht, ist es, ein adäquates Instrument zur Regierung größerer Gemeinschaften ausfindig zu machen. Unsere moderne Gesellschaft, die oft autoritären, totalen, sich selbst vergötternden, als Selbstzweck beweihräuchernden Staatswesen ausgeliefert ist, hat unter diesen Mißverhältnissen besonders schwer zu leiden.”

Gaddafis verträumte Braunaugen werden hart. In der ersten Bankreihe sieht er unverschämt gähnende Münder. Nervös trommelt er aufs Katheder. Dann besinnt er sich, wird weniger theoretisch:

„Denkt nur an eure Eltern und Geschwister. Habt ihr da nie Konflikte erlebt?”

Jetzt haben auch die Dümmsten begriffen. Sie beißen herzhaft in einen der hier so seltenen und teuren Rotwangenäpfel, die zur Feier des Gaddafi-Kollegs von der Direktorin verteilt zu werden pflegen, und spitzen die Ohren:

„Stellt euch einen Wahlkampf vor, aus dem die sogenannte Regierungspartei mit 51 Prozent der Stimmen, die Opposition hingegen mit 49 Prozent hervorgeht. Wir erhalten so eine in Wirklichkeit diktatorische Regierung, die feist der Hälfte der Wählerschaft ihren Willen durch die ganze Legislaturperiode aufzwingen und dabei irreparable Schäden anrichten kann. - Nadja, wie bezeichnen die meisten heutigen Staaten ihre Parlamente? Ein Parlament ist eine miserable Repräsentation des Volkes!”

Gaddafi ist in Schweiß geraten und läßt sich von einer eifrigen Schülerin Papiertaschentücher reichen:

„Schaut euch nur so einen Wahltag an! Da steht das Stimmvieh schweigend in langen Reihen, um seine Zettel in die Umen zu werfen. Nein, die ganze Macht muß dem Volk gehören! Dem Volk, sage ich, nicht einer Partei oder einer Parteienkoalition. Jede Partei stellt, verglichen mit dem Volk, eine Minderheit von Sonderinteressen dar, die aber gebildet ist, um diese Sonderinteressen allen aufzuzwingen. Alle Parteien haben nur ein einziges Ziel, einen einzigen bitteren Kern all ihrer süß verpackten Programme: Die Herrschaft der Parteimitglieder über alle Einzelmitglieder des Volkes!”

Nach all dem bisher Gesagten möchte man fast erwarten, daß Muamar al-Gaddafi jetzt lobend auf die Schweiz mit ihren direkten Volksentscheiden zu sprechen käme. Aber leider scheint der libysche Staatschef nur die ihm verhaßten, in Ägypten neuerdings von Präsident Anwar as- Sadat ebenso manipulierten wie bei jeder Gelegenheit strapazierten „Referenden” vor Augen zu haben. Er beginnt grimmig um sich zu blicken und schreit mit sich überschlagender Stimme:

„Volksentscheide sind der schlimmste Betrug an der wahren Volksherrschaft! Diejenigen, die ja’, und diejenigen, die ,nein’ sagen, drücken ja nicht wirklich ihren Willen aus. Sie sind durch das moderne Demokratieverständnis zum Schweigen verurteilt worden. Man erlaubt ihnen, nur ein einziges Wort von sich zu geben: entweder ja’ oder ,nein’. Das ist das grausamste System diktatorischer Unterdrückung!”

Nach all dieser Kritik läßt Gaddafi endlich die Katze aus dem Sack und sagt, wie man es besser machen kann: „Volkskongresse sind das einzige Mittel, um .Volksdemokratie zu erreichen. Urabstimmungen statt Parlamentswahlen, das ist unsere Parole! Verfassungen und die aus ihnen abgeleiteten Gesetze können nicht einfach von Menschen gemacht werden. Jedes von Menschen erdachte Grund- oder Teilgesetz muß eine Quelle zu seiner Rechtfertigung haben. Tradition und Religion allein kommen als solche Rechtsquellen in Betracht!”

Da bricht drunten in der Klasse der Jubel los: „Muamar, ja rassul Allah - Muamar, Gesandter Gottes”, kreischen die Mädchen hysterisch und vergessen, daß eigentlich nur der Prophet Muhammad als „Rassul Allah” bezeichnet werden dürfte …

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