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Das große Wagnis
Alban. Bergs dichterische Begabung gestattete dem Komponisten, äurch Zusammenziehung des dramatisch Wesentlichsten aus den Wede-kindschen Tragödien „Erdgeist“ und „Büchse der Pandora“ das Buch für seine Oper „Lulu“ selbst zu schreiben, das sich mit dem ewigen Kampf der Geschlechter und der triebhaften Dämonie Lulus auseinandersetzt. Die Partitur der Oper läßt eine bis ins allerletzte fortgesetzte Entwicklung des Musiktheaters erkennen, bei der Berg nicht mehr mit traditionellen Mitteln auskommt. In einer streng angewendeten Zwölftontechnik wird eine Klangwelt heraufbeschworen, die, illustrativ und stimmungsvoll zugleich, die Handlung, ihre Figuren und deren Seelenzustand genauest widerspiegelt. Primär in dieser Spiegelung tritt der in der Gestalt Lulus komprimierte Eros und eine gesellschaftlich faulige Morbidität hervor.
Die Vertonung solcher tiefenpsychologische Komplexe aufweisender Bühnenwerke wie der Wedekind-schen Dramen konnte nur einem Komponisten gelingen, der sich der von ihm verwendeten kompositorischen Linie nicht unter Zwang fügte, sondern sie für die Oper „Lulu“ als die allein richtige und geeignete ansah. Und aus dieser Erkenntnis heraus gelang Berg eine Oper, die trotz Atonalität und Dodekaphonie den Hörer nicht zur Negierung des Begriffes „Musik“ zwingt; doch ist für ein an bloß kulinarische Operngenüsse gewohntes Publikum die „Lulu“ eine nicht ganz leicht verdauliche Kost und das Linzer Landestheater hat sich mit ihrer Aufführung nicht nur eine für eine mittlere Bühne gigantische Aufgabe gestellt, sondern ist auch ein gewisses Wagnis bezüglich des Publikumsechos eingegangen.
Den Erfolg der Premiere — denn ein solcher war es — verbürgte in erster Linie die saubere musikalische Einstudierung, die genaue Partüur-kenntnis und das Einfühlungsvermögen des Dirigenten Peter Laco-vich, der aus dem nach Kräften sich bemühenden Bruckner-Orchester die beste Leistung in den Zwischenspielen herausholte und auf Durchsichtigkeit der Polyphonie achtete. Alfred Schönolts realistische Regie ging auf eine einen einheitlichen Stil wahrende Personenführung und auf ein volles Ausspielen der Situationen aus, mit Höhepunkten in den Alwa-Szenen und Lulus Tod. Heinz Köttel hat der Regie, indem er ihren Intentionen weitgehend entgegenkam, mit seinen Bühnenbildern und Kostümen einen durchaus stimmigen Rahmen gegeben.
Für die Partie der Lulu brachte die finnische Gastsopranistin Tamara Lund gesanglich und darstellerisch alles mit, um die Kindlichkeit, Laszivität, Hysterie, Kälte und Hemmungslosigkeit des „schönen Tieres“ voll auszuspielen. (Ihr Engagement für eine Reihe von Reprisen wurde durch die Alban-Berg-Stiftung ermöglicht.) Selbst ein Vergleich mit den in Wien bekannten Lulu-Interpretinnen Evelyn Lear und Anja Silja kann die ausgezeichnete Leistung der Künstlerin nicht mindern. Lorenz Myers als Doktor Schön und William Ingle als Maler bringen ihr seelisches und physisches Zugrundegehen am Dämon Lulu überzeugend zum Ausdruck, Veijo Varpio ist ein glaubwürdiger Aiwa, Hans Lachmann gibt der heruntergekommenen Figur des Schi-golch die richtigen Akzente, Helga Wagners Gräfin Geschwitz glaubt man die widernatürliche Kettung an Lulu, Ingeborg Friedl den schwärmerischen Gymnasiasten. Es gab ansehnlichen Premierenapplaus des vollen Hauses, der aber — entsprechend dem Gebotenen — hätte stärker ausfallen können.
• Das Landestheater Linz bringt im Oktober 1972 im Rahmen des Eröffnungszyklus der diesjährigen Spielzeit vier Premieren und eine Wiederaufnahme. — Als erste Premiere kommt in den Kammerspielen im Rahmen der Studioreihe „Forum der Zeit“ Samuel Becketts Stück „Glückliche Tage“ heraus. Die Inszenierung besorgt der neuengagierte junge Regisseur Uwe Berend, die Ausstattung entwirft Hans Ohland. Die zentrale Rolle der Winnie spielt Gundel Dwinger. Am 6. Oktober folgt, ebenfalls in den Kammerspielen, die Linzer Erstaufführung der Komödie „Der Werbeoffizier“ von George Farquhar. Die Inszenierung leitet Jörg Buttler in der Ausstattung von Brigitte Erdmann. Maxim Gorkis „Nachtasyl“ folgt als weitere Premiere in den Kammerspielen am 15. Oktober. Uwe Berend inszeniert das Werk, von Heinz Köttel stammt die Ausstattung.
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