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Das Großvater-Syndrom

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Es gibt natürlich keine objektive oder überparteiliche Geschichtsschreibung, denn alles, was von Menschen zur Kenntnis genommen wird, wird von einem Standpunkt zur Kenntnis genommen. Es gibt keine standpunktlose Perzeption. Verständigung ist jedoch möglich, wenn die unterschiedlichen Standpunkte in Betracht gezogen werden.

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Es gibt natürlich keine objektive oder überparteiliche Geschichtsschreibung, denn alles, was von Menschen zur Kenntnis genommen wird, wird von einem Standpunkt zur Kenntnis genommen. Es gibt keine standpunktlose Perzeption. Verständigung ist jedoch möglich, wenn die unterschiedlichen Standpunkte in Betracht gezogen werden.

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In der politischen Geschichte Österreichs wäre hier jedoch nicht nur zwischen den unterschiedlichen Standpunkten der drei traditionellen politischen Lager zu unterscheiden, sondern vor allem zwischen den Standpunkten und Perspektiven der gemäßigten und extremen Flügel innerhalb der drei Lager. Die politischen Entwicklungen in der Ersten Republik wurden nämlich von den Beziehungen zwischen Gemäßigten und Extremisten innerhalb der drei Lager entscheidend beeinflußt und letzten Endes bestimmt.

Angesichts der berechtigten Zufriedenheit mit der Gegenwart und dem noch mehr gerechtfertigten Selbstbe- wußtsein in bezug auf die erfolgreiche Aufbauarbeit in den Nachkriegsjahren gerät die weiter zurückliegende Vergangenheit leicht in Vergessenheit. Viele Österreicher wollen diese auch vergessen.

Dennoch sollte gerade jetzt Österreichs Geschichte mit Schwerpunkt auf den überaus unerfreulichen Zwischenkriegsjahren zur Sprache gebracht werden. Es waren schließlich die Erkenntnisse des Österreichers Sigmund Freud, die klargemacht haben, daß zweckmäßiges Verhalten und zielbewußtes Handeln vor allem behindert wird durch aus’ dem Bewußtsein verdrängte Tatsachen einer peinlichen Vergangenheit.

Seit über drei Jahrzehnten motiviert demokratische Gesinnung in der Form politischer Mäßigung Bereitschaft zu demokratischer Zusammenarbeit, die das Land aus dem Chaos nach dem Krieg gerettet und den erfolgreichen Aufbau ermöglicht hat. Politiker aus allen drei Lagern haben dazu beigetragen.

Im Sog dieser erfolgreichen demokratischen Politik entstand begreiflicherweise ein gegenwartsbezogener Pragmatismus, in dem für die Vergangenheit wenig Interesse vorhanden ist. Im Sinne von diesem gegenwartsbezogenen Pragmatismus wird die Geschichte in den Lehrbüchern zwecks Verniedlichung vergangener Konflikte in einer unvertretbaren Weise verfälscht. 1

Gleichzeitig wird die innerparteiliche Geschichtsschreibung nicht selten „La- ger“-Patrioten überlassen, denen es vor allem um die Rechtfertigung der eigenen Seite auf Kosten der Gegenseite zu tun ist.

Lagerpatriotische Geschichtsfäl- schungen werden vor allem von Veteranen der jeweiligen politischen Lager propagiert, denen im fortschreitenden Alter ihr einstiger politischer Einsatz im verklärten Licht vergangener ju gendlicher Begeisterung erscheint: Man kann von einem „Großvater-Syndrom“ sprechen.

Bei allem dem Alter gebührenden Respekt sollten diese Geschichtsfälschungen mit Rücksicht auf die Jugend und damit auf die Zukunft unserer Demokratie taktvoll, aber konsequent korrigiert werden. Andernfalls könnten die verhängnisvollen Ideologien mit in- reh anmaßenden Ansprüchen als diesseitige Heilslehren neuerlich für die Demokratie gefährlich werden, obwohl sie doch von der Geschichte kompromittiert worden sind.

Zur Sicherung der österreichischen Demokratie ist es erforderlich, daß die demokratisch gesinnten politischen Gegner auch an einer gemeinsamen Bewältigung der Vergangenheit Zusammenarbeiten. Dabei ist natürlich nicht zu erwarten, daß Vergangenheitsbilder entstehen können, die für alle identisch sind.

In der Betrachtung von vergangenen Ereignissen beeinflussen - wie auch in der Betrachtung von Landschaften - Standpunkt und Gesichtswinkel, was man sieht. Gemeinsam unternommene Geschichtsforschung sollte jedoch den Angehörigen der verschiedenen politischen Lager Österreichs Geschichtsbilder liefern, die miteinander vereinbar sind.

Dazu bedarf man nicht einer überparteilichen historischen Perspektive, die es ebenso wenig geben kann wie irgendeine Art von..standpunktloser Perspektive, denn ohne Standpunkt gibt es überhaupt keine Perspektive. Daher sind alle Versuche, „unparteiische“ oder „überparteiliche“ Geschichtsbilder zu entwickeln, zum Scheitern verurteilt.

Unterschiedliche Geschichtsbilder sind jedoch miteinander vereinbar, solange diese im Licht von Tatsachen kritischen Prüfungen unterliegen.

In der Geschichtsschreibung geht es nicht um Verurteilung oder Rechtfertigung, sondern um schonungslose Konfrontation mit Tatsachen. Es obliegt uns auch ganz und gar«nicht, Urteile über Männer zu fällen, die in der Ersten Republik versagt haben. Die Geschichte hat das Fällen von Urteilen bereits besorgt. Diese Urteile waren hart, und wir haben ihnen nichts hinzuzu fügen.

Wir müssen vielmehr anerkennen, daß die Politiker in der Ersten Republik trotz ihres verhängnisvollen Versagens Großes geleistet haben. Es war ihr Verdienst, daß die demokratischen Institutionen in der Ersten Republik im Schatten dramatischer Konflikte immerhin eineinhalb Jahrzehnte lang funktioniert haben. Das war nur möglich, weil die Politiker einander nicht nur bekämpft, sondern weil sie auch zusammengearbeitet haben.

Das ist natürlich kein Grund, ihre Fehlleistungen zu übersehen. Wir können aus deren Fehlern jedoch am meisten lernen, wenn wir uns bewußt sind, daß es diesen Politikern weder an Intelligenz noclran Anständigkeit noch an Menschlichkeit mangelte. Sie waren gezwungen, Entscheidungen in Situationen zu treffen, für die es in der Geschichte keine Präzedenzfälle gab. Folglich wurden viele Entscheidungen im Sinne von politischen Ideologien getroffen, die sich seitdem als Irrlichter erwiesen haben.

Der Verfasser ist außerordentlicher Professor für Soziologie an der Universität Wien.

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