7077657-1993_24_07.jpg
Digital In Arbeit

Das gute Beispiel zählt

Werbung
Werbung
Werbung

Der Wertekatalog des Westens, wie er in einem langen historischen Prozeß entwik-kelt wurde, hat heute keine weltweite Akzeptanz. Ein großer Teil der Staatengemeinschaft hat die westlichen Vorstellungen von Individualismus, Recht auf Kritik und Autonomie des Handelns (Selbstbestimmung des Menschen) nicht angenommen. Das Primat der menschlichen Vernunft, die nach Kant „als Oberster Gerichtshof gegen den Glauben an die Autorität von Verkündigung und Überlieferung angerufen werden soll, wird in vielen Kulturen abgelehnt. Nimmt die Wiener Konferenz über Menschenrechte diese bittere Tatsache zur Kenntnis? Oder wird sie den daraus zwangsläufig entstehenden Konfliktstoff unter den Teppich kehren, um schließlich den kleinsten gemeinsamen Nenner als Erfolg zu feiern?

Zwar haben die Charta der Vereinten Nationen und andere internationale Vereinbarungen die westlichen Vorstellungen über die grundlegenden Menschenrechte übernommen. Und wenn auch praktisch alle unterschrieben haben, daran geglaubt und danach gelebt haben nur zwei oder drei Dutzend Mitgliedsländer. Diese Erkenntnis war in der Vergangenheit durch den Ost-Westkonflikt verschüttet: Der Westen kritisierte zwar die Mißstände im kommunistischen Machtbereich, behandelte aber seine men-schenrechtsscheuen Verbündeten in Asien, Afrika oder Lateinamerika nach dem Grundsatz: „He may be a son of a bitch but he is our son of a bitch”. Dieser Haltung wird jetzt der Boden entzogen.

Auf der anderen Seite haben sich in der islamischen Welt und im Fernen Osten politische Zentren gebildet, die die Menschenrechte vor dem Hintergrund ihrer religiösen, sozialen, kulturellen und geographischen Bedingungen gestalten wollen. So sieht es China als seine vordringlichste Aufgabe an, den Grundbedürfnissen seiner rasch wachsenden Bevölkerung wie Wohnung, Kleidung, Nahrung, medizinische Betreuung und Erziehung Rechnung zu tragen. Die Frage der Meinungsfreiheit oder der demokratischen Kontrolle durch Gewaltenteilung tritt demgegenüber zurück. Das Recht, als einzelner „nach Glück zu streben”, wie es die US-Verfassung garantieren will, hat keinen großen Stellenwert.

Überzeugungsarbeit

Man hat in diesem Zusammenhang von sogenannten „blauen” und „roten” Menschenrechten gesprochen: Erstere beinhalten die westlichen Vorstellungen von Freiheit, Gleichheit und Solidarität. Die „roten” sind vorwiegend im islamischen und fernöstlichen Kulturkreis verwurzelt; hier stehen nicht individuelle Rechte im Vordergrund. Vielmehr wird es als Aufgabe des Staates angesehen, im Rahmen eines festgefügten Ordnungsprinzips für ein menschenwürdiges Leben der gesamten Bevölkerung zu sorgen. Dies soll in der islamischen Welt durch die Religion, in China durch ein autoritäres Regime ermöglicht werden, das neuerdings unverkennbare Züge einer dem freien Spiel der Kräfte verpflichteten Wirtschaftsverfassung annimmt.

Alle diese Unterschiede wurzeln tief in der verschiedenen Mentalität der Völker. Es wäre daher ein Fehler, die Wiener Konferenz dazu zu benützen, die Dritte Welt zu ermahnen., sie solle sich die westlichen Maßstäbe sofort und generell zu eigen machen. Ebenso wäre es falsch, über die unbestreitbaren Differenzen hinwegzugehen und brave, nichtssagende, verschieden interpretierbare Kommuniques zu fabrizieren.

Es wäre mutiger und ehrlicher, die Gegensätze nicht nur als Ergebnis politischer und ökonomischer Unterschiede zu sehen, sondern ihre geistesgeschichtlichen Wurzeln zu erkennen. Dies bedeutet jedoch nicht, Mord und Folter zu tolerieren. Und auch die eigenen Auffassungen von Menschenrechten dürfen nicht verleugnet werden. Es wäre vielmehr zielführend, durch intensive politische, wirtschaftliche und kulturelle Kontakte zu überzeugen, daß die westlichen Vorstellungen der Menschenrechte zu besseren Lebensbedingungen führen, so wie auch die Überlegenheit der sozialen Marktwirtschaft zum Zusammenbruch des Staatskapitalismus in Praxis und Theorie beigetragen hat. Das gute Beispiel ist zu allen Zeiten und an allen Orten wirkungsvoller als dozierende Selbstgerechtigkeit.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung