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Das heilsame Erschrecken

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Die Frage, wie wir mit Schuld umgehen, ist in dieser Fastenzeit besonders aktuell. Führende Politiker sind — berechtigt oder unberechtigt — in aller Öffentlichkeit angeklagt, daß sie nicht bereit seien, Schuld einzugestehen, und daß sie, weil sie das nicht können, lügen. Dieses Problem betrifft aber nicht nur Politiker.

Viele sind entsetzt, aber nicht jedes Entsetzen ist aufrichtig; es ist nicht selten heuchlerisch.

Unzählige haben in den letzten Jahrzehnten beigetragen, die Voraussetzungen für eine menschenwürdige Schuldbewältigung zu zerstören. Sie haben zu rücksichtslosem Egoismus aufgestachelt und Mitmenschen veranlaßt, nur um das eigene Wohlergehen besorgt zu sein. Das Bewußtsein der Verantwortung wurde untergraben.

Nach christlicher Uberzeugung ist der Mensch vor sich selbst, vor den Mitmenschen und vor Gott für sein Tun verantwortlich, auch wenn die Entscheidung des einzelnen durch äußere Faktoren mitbestimmt wird. Und wo dafür die Voraussetzungen fehlen, soll alles getan werden, sie zu schaffen. Das ist der Sinn jeder moralischen Erziehung und Gewissens-büdung.

Aber wie soll sich jemand, der schuldig geworden ist, verhalten? Der erste Schritt ist: die Schuld erkennen und sich selbst eingestehen. Das ist nicht leicht. König David hat Ehebruch begangen, und als daraus „Peinlichkeiten“ zu entstehen drohten, hat er Urija faktisch ermorden lassen. Um diese Schuld zu erkennen, mußte ihm der Prophet Natan ins Gesicht sagen: „Du bist der Mann!“. Wer schuldig geworden ist, ist immer versucht, sich zu entschuldigen, andere zu beschuldigen, die Schuld zu bagatellisieren oder sie zu verdrängen. Sich Schuld einzugestehen, bedarf der Wahrhaftigkeit, des Mutes und der Hoffnung. Wo die Hoffnung und der Wille für eine positive Bewältigung der Schuld nicht bestehen, wird sie meist verdrängt.

Durch Schuld wird immer etwas zerstört, was wertvoll ist. Es werden die Lebenschancen anderer, aber auch die eigenen vermindert. Wer ein Gespür für Werte und die schädlichen Auswirkungen der Schuld hat, und wer die Erkenntnis zuläßt, daß er diese Werte verletzt oder gar zerstört hat, kommt von selbst zur Reue. Es tut ihm leid, daß er das sich selbst, den Mitmenschen, Gott angetan hat.

Reue ist der Schmerz über das Leid, das ich durch mein Tun verursacht habe. Ihre Tiefe hängt von der Einsicht ab; aber auch von der Intensität der Liebe zu Gott, den Mitmenschen und zu mir selbst.Wo es an Gespür für Werte, an Einsicht und an Liebe fehlt, dort 'gibt es keine Reue. Vielleicht ist das der Grund, warum heute auch bei öffentlichen Vergehen mitunter keine Reue erkennbar ist.

Ein wichtiges Element christlicher Schuldbewältigung ist das Bekennen, das Aussprechen der Schuld. Wie aktuell diese Forderung ist, zeigen die Vorwürfe an Politiker, daß sie nicht den Mut hätten, sich zu einer Schuld zu bekennen. Dies zeigt aber auch die therapeutische Wirkung des Aussprechens bei psychischen Heilungsprozessen. Im Bekenntnis vollzieht sich die innere Loslösung.

Diesem Bekenntnis von Schuld stehen heute viele Hindernisse entgegen. Wer Schuld bekennt, kann nicht immer mit Gnade rechnen. Schuld wird gebraucht, um Gegner zu bekämpfen; wer als schuldig erkannt wird, wird gnadenlos verworfen. Aus Angst davor verbergen so manche ihre Schuld. Auch dies gibt zu denken: „Kennzeichen einer Gesellschaft im Tiefstand der Negation: Geist hat, wer Defekte aufspürt. (Anstand hätte, wer über sie hinwegzuhelfen sucht)“ (Reinhold Schneider).

Ziel christlicher Schuldbewältigung ist die Versöhnung: Die Versöhnung mit sich selbst und der eigenen Vergangenheit, die Versöhnung mit den betroffenen Mitmenschen und mit Gott. Versöhnung hat ihren Preis. Sie braucht Sühne — das Verlangen, die angerichteten Schäden soweit wie möglich gutzumachen (FURCHE 4/1988). Versöhnung gibt es nicht ohne Vergebung.

Der Schuldige braucht die Vergebung von Seiten der Mitmenschen; aber auch er selbst muß sich vergeben und sich annehmen trotz der Schuld. Der Glaube an den versöhnlichen Gott ermöglicht Vergebung und Versöhnung in all ihren Dimensionen.

Alfred Delp hat angesichts der großen Schuld 1944/45 geschrieben: „Es gibt für den schuldigen Menschen nur einen Weg zur Heilung: nicht zu fliehen vor der Einsicht oder Ahnung der Schuld. Sondern sich zu sich selbst, zu seiner Verantwortung und Fehlleistung zu bekennen, das mißlungene Werk des eigenen Lebens nicht zu verleugnen. Aber dieses Bekenntnis darf nicht zur Grabkammer des Lebens werden. Daß der Mensch einmal und öfters vor sich und seinen Möglichkeiten erschrickt, ist heüsam. Aber wehe, wenn er im Schrecken steckenbleibt oder durch ihn zu Müdigkeit und Resignation erdrückt wird. Dann ist erst recht alles verloren. Gerade in der Schuld muß der Mensch den innersten, feinsten Strebungen seines Wesens treu bleiben, und die verweisen ihn über sich selbst hinaus... Der Herr des Daseins allein ist der Wiederherstellung fähig und mächtig und — willens.“

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