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Das innere Bild

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Da saß nun das Kind. Vor ihm ein Einsiedeglas, in dem, zwi¬schen einigen Grashalmen und grünen Lattichblättern, ein kleiner Frosch hockte, der seinen Kopf bedächtig hin- und herwendete und ab und zu mit den Augen blinzelte.

Tränen liefen über die Wangen des Mädchens. Es saß still und starr¬te in den gläsernen Käfig.

Die Tante, die die Tür geräusch¬voll hinter sich geschlossen hatte und verärgert in der Küche herum­hantierte, brummte: „Die ganze Mutter." Die ganze Mutter. Grol­lend dachte sie an die Frau ihres, von ihr schon seit der Kindheit verehrten älteren Bruders. Er war von der Mutter des Kindes getrennt und hatte seiner Schwester die Tochter in Obhut gegeben.

Das hat man davon, wenn man diesem Fratz eine Freude machen will, dachte sie, jetzt heult er. Wenn mich mein Ischias schmerzt, daß ich kaum stehen kann, zeigt er nicht halb so viel Teilnahme. Dieser dumme, undankbare Fratz.

Clara saß noch immer vor dem Glas und sah dem Tier zu, das lang­sam in seinem Käfig herumkletter­te. Sie hatte draußen in der nahen Au die Frösche gesehen, wie sie in langen Sprüngen von Blatt zu Blatt hüpften, wie sie in dem Tümpel nahe dem Strom standen, die Au­gen knapp über dem Wasserspie­gel, wie sie Futter suchten und all­abendlich in den großen Chor ihrer Artgenossen einstimmten. Es war ihr ein lautes, festliches Sommer­lied. In dem Glase vor ihr war es jedoch eng und kalt.

Der Frosch ist auf das Futter angewiesen, das ich oder die Tante hineinwerfen, dachte sie, ob er noch singen wird? Sie saß still und starr­te in das Einsiedeglas.

Diese zarten, langen Finger, wie sie von einem Blatt zum anderen tasteten, wie sich die gelenkigen Schenkel beugten und streckten, wie sich der kleine Kopf hierhin und dorthin wandte, die Augen ununterbrochen blinzelten und das Herz gleich unter dem Hals schlug! Besonders feber die Augen, diese schönen, wie Bernstein glänzenden Augen mußte Clara immer wieder ansehen und ihr Blick, von den Tränen getrübt, entdeckte darin ihre eigenen glänzenden Augen; sie sah ihre zarten, schmalen Finger, wie sie immer wieder dieselben Dinge faßten; sie sah sich durch den kleinen Raum bewegen und überall an eine gläserne Wand anstoßen. Ihre Augen quollen etwas vor und sie mußte blinzeln, doch änderte das nichts; da war immer wieder das Büschel Gras, da waren die grünen Lattichblätter und unten am Boden glänzte etwas kühles Wasser.

Sie setzte eine der Hände an das Glas, den langen, mittleren Finger bog sie leicht ab, klopfte mit dessen Spitze hierhin und dorthin. Über­all war etwas, das man nicht sah und das einen doch nicht weiter­ließ. Sie kletterte auf dem Büschel Gras hoch, es neigte sich ein wenig unter ihrem geringen Gewicht, und so kam sie bis an den mit einigen Luftlöchern versehenen Deckel des Käfigs. Sie konnte durch eines der Löcher durchsehen, ein kleines Fenster tat sich auf, und sie sah ins Freie, in den Himmel, der unbe­greiflich fern war und in dem Mücken hin- und herschwirrten. , Ließ sie sich dann wieder auf ein Blatt am Boden des Glases fallen, tauchte sie mit ihm etwas unter das Wasser, das hart und leer war, nicht wie das Wasser in den Tümpeln der Auen, das man bis in den kleinen Raum herüber roch, das von Tau­senden und Abertausenden Lebe­wesen bevölkert, das von lebenden und toten Pflanzen durchzogen und von den Sonnenstrahlen aller Tage wärmer und wärmer wurde. Das Wasser hier war kalt, und sie zog die langen, schlanken Beine hoch an den Körper, sich vor der Nässe schützend.

Unruhig und heftig ging ihr Atem und bewegte die kleine Brust. Still saß sie und schaute stumm durch die harte Glaswand.

Hatte sie wirklich solch große und hervorquellende Augen, glänzten sie wirklich wie goldener Bernstein?

Clara verkürzte ihren Blick, so-daß sie ihr Spiegelbild, in der Krüm­mung des Glases leicht verzerrt, erkennen konnte. Da trat ihr Ge­sicht an der Wölbung groß hervor und der Frosch, das Glas und die Blätter waren undeutlich, fast ver­schwunden.

Doch neben dem Mädchengesicht war ein Stückchen von einem Schrank zu sehen, auf dem Blumen standen, Blumen in einem Krug, und daneben war eine große Wand, an der ein einziges Bild hing. Es war das Bild ihrer Eltern. Die Mutter, eine schöne, zarte Frau, stand vor einer Schüssel voll Obst und machte ein bekümmertes Ge­sicht, während der Vater, ihr gegenüber, fröhlich lächelte.

Ganz deutlich konnte sich Clara in dem Glase wiedererkennen, wie sie da mit verweintem Gesicht vor der Obstschale stand und zu dem Manne aufsah. Ganz deutlich konn­te sie die Schwester des Mannes kommen und gehen sehen. Diese Frau brachte immer neue Einsiede­gläser, reichte immer von neuem dem Manne Papier, damit er die Gläser verschließe: sterile, ausge­kochte Einsiedegläser, alte Fami­lienerbstücke. Diese Gläser wur­den aufeinandergestellt, eine ganze Wand, immer nebeneinander und aufeinander, nebeneinander und aufeinander, Obst und Gemüse aus dem Garten der Familie des Man­nes. Gemüse und Obst. Obst und Gemüse.

Auf der einen Seite stand sie und auf der anderen er. Sie wog einen Apfel in der Hand, freute sich an dem Runden und Glatten, da wurde er schon zerschnitten und in das Glas gesteckt. Sie strich über die zarte Samthaut eines Pfirsichs, schon wurde diese weiche Haut der Frucht vom Leibe gezogen. Ihre Augen verweilten auf dem fernen, süßen Blau der Pflaumen, doch nicht lange; die Früchte wurden von flinken Händen genommen und zu breiigem Matsch zerdrückt. Des Mannes Schwester brachte immer neue Gläser. Ganz deutlich sprach Trauer und Sorge aus dem stillen Antlitz Claras im Glase.

Das Kind, das nicht wußte, war­um sich seine Eltern getrennt hat­ten, weinte still vor sich hin. End­lich, als es sich beruhigt hatte, schlich es, an der Küche vorbei, aus dem Haus.

Es hielt das Einsiedeglas fest in der Hand und lief der nahen Au zu.

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