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Das Interregnum

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Gegenwärtig kann mit Recht von einem ideenpolitischen Interregnum gesprochen werden. Die politische Entwicklung scheint unter keinen auf eine Formel zu bringenden Ideen zu stehen. Nach Jahren, in denen einerseits verschiedene Konzeptionen des demokratischen Sozialimus im Mittelpunkt der Diskussion standen, die auch zu der Dialogphase zwischen Christentum und Marxismus führten, anderseits die Erfahrungen der geringen praktisch-politischen Relevanz dieser Konzeptionen mit den Ereignissen in Prag 1968 und in Chile 1973 gemacht wurden, zudem die Studentenrevolte kläglich zusammenbrach, weil sich das geschichtliche Subjekt der Revolution auch mit der Laterne des Diogenes nicht finden lassen konnte, dafür aber die Bürokratisierung stille Triumphe feierte, fragt es sich: Gibt es gegenwärtig ein geistige Orientierung, die über den politischen Alltag und seinen vom Kompromißdenken geprägten Pragmatismus hinausgeht?

Sehr zaghaft und eher verschämt waren die Ansätze, die von einer „Tendenzwende“ sprachen. Bald darauf wollte niemand etwas gehört haben. Sicher hatte Ralf Dahrendorf recht, wenn er Ende November 1974 in München von dem „Politischen Themenwechsel“ sprach, mit welcher Formulierung er der Brisanz der Fragestellung des Forums, auf dem er auftrat, auswich. Statt gesellschaftlicher Relevanz sollte es nun der arg vernachlässigte private Bereich sein, bei dem die Politik anzusetzen habe. Die Zukunft ist nicht die der Utopie der klassenlosen Gesellschaft, sondern unsere eigene höchst individuelle Lebenschance. Fast könnte die Unterscheidung von Revolution und Revolte im Sinne von Albert Camus Pate gestanden sein, die davon ausgeht, daß es allzu voreilig ist, sich um das Schicksal der noch nicht Geborenen zu sorgen, dafür aber das Lebensglück jetzt Lebender gefährlich aufs Spiel zu setzen. Es ist gut, daß dies wieder gesagt und gesehen wird. Differenzierungen werden wieder deutlicher, wo bisher nur sozialistisches Einheitsgrau vermutet wurde. Jedoch: Sieht man sich nach einschlägigen Theorien um, wird man wenig finden. Ist dies nur ein Symptom für das vielzitierte Theoriedefizit derer,

die nicht die jeweils neueste Variante der intellektuell-linken Sektiererei mitbekommen haben?

Unterschiedlichstes wird herumgereicht. In Österreich wurde Karl Raimund Popper ideologisch bemüht, just von einer Partei, die im Wahlkampf gegen eine Partei stand, die sich höchst kompetent ebenfalls vorsichtig mit Popper versuchen will. Helmut Schmidt, der deutsche Bundeskanzler, hat das Vorwort zu einem „Kritischer Rationalismus und Sozialdemokratie“ betitelten Buch mit Aufsätzen zur angeblich politischen Bedeutsamkeit der Lehren des Ex-Wieners verfaßt. Wie mag es aber darum stehen, wenn in einer Theorie das Phänomen Macht ausgeblendet ist? Für Popper tritt bekanntlich an die Stelle eines dem Handeln Sicherheit verleihenden vorgegebenen Sinnes der Geschichte das Modell der wissenschaftlichen Kooperation, das an der Nicht-Endgültigkeit, stets drohenden Möglichkeit der Falsifikation von Ergebnissen hängen bleiben muß. Popper tut so, als ob die wissenschaftlich-technische Gesellschaftsentwicklung Bedingungen begünstige, die er für das Modell politischer Prozesse hält.

Mit einer für Sozialutopisten typischen Manier versucht Popper, unbestreitbare Ideale als realisierbar erscheinen zu lassen; damit aber werden sie ihres politischen Stellenwertes beraubt und es wird denen in die Hände gearbeitet, die neben dem niederträchtigen Opportunismus aus Karrieregelüsten einen Systemopportunismus kennen, der schlechtweg als unvermeidlich angesehen wird.

Ich meine. Niklas Luhmann und seine Systemphilosophie. Logik ist darin nicht zu finden, es sei denn, das Subjekt der Logik sei jetzt das System, jener transsubjektive subjektiv vermittelte Bereich, der mit objektiver Schärfe quasi-naturwüchsig auf mich zurückschlägt, regelmäßig dann, wenn ich es wage, ihn an meinem begrenzten Einsehvermögen zu messen. Es ist schon so: dem neuzeitlichen Ich-Subjekt wird der Abschied von der Bildfläche nicht leicht gemacht.

Neulich tauchte das Schlagwort vom „Politischen Katholizismus“ neu auf, wenngleich sofort verblüffend übereinstimmend versichert wird, der politische Katholizismus von ehedem habe keinen Realitätswert.

Richtig ist, daß die Kirche derzeit im Westen die einzige ideenpolitische Institution von Rang darstellt. Ihr Anspruch geht über die westlichen Industrieländer hinaus. Darin dürfte ihre weltpolitische Bedeutung von morgen liegen. Freilich — im Blick auf das Heute: wir begegnen nur Rudimenten einstiger Theologie, überholt durch moderne Terminologien verschiedener Prägung. Die UnUnterscheidbarkeit des Christlichen, seine Rolle als Trendverstärkung, ist derzeit das Erscheinungsbild. Nur langsam kommt dieser Befund überhaupt ins Blickfeld.

Ganz vergessen habe ich auf den Marxismus. Aus den Studentendemonstrationen von einst — für Vietnam, für Mitbestimmung — ist — wie neulich an einem Wiener Universitätsinstitut zu lesen war „die Erstellung einer einheitlichen Bewegung für höhere Stipendien“ geworden.

Wie lange das Interregnum dauern wird? Sicher so lange, bis die Zeit wieder dafür da ist, sich um das Unmittelbare der Daseinsorganisation nicht mehr vorrangig zu sorgen.

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