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Das Janusgesicht Amerikas

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Zwischen Watergate-Katzenjammer und Erneuerungs-Euphorie hält Amerika eine Weltminute lang den Atem an. Besinnt sich seiner Situation, findet sich hinter jenen Punkt zurückgeworfen, von dem es vor 14 Jahren, um die fünf Vereidigungen dreier Präsidenten früher, zu Kennedys „neuen Ufern“ aufbrach. Die „neuen Ufer“ waren eine Fata Morgana.Heute ist von „neuen Ufern“ keine Rede mehr — die neuen Losungen lauten bescheiden: Zurück zu den alten Werten, alten Prinzipien, alten Idealen. Gemeinsam mit Gerald Ford sucht Amerika den verlorenen festen Grund unter den Füßen, es ist der vertraute Boden'der alten Ufer. Nach einer langen, gefährlichen Reise ist man glücklich, wieder dort zu sein, wo man war, und weiß zugleich, daß eine solche Rückkehr nur Illusion sein kann: Die Zeit ist nicht stehengeblieben.

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Zwischen Watergate-Katzenjammer und Erneuerungs-Euphorie hält Amerika eine Weltminute lang den Atem an. Besinnt sich seiner Situation, findet sich hinter jenen Punkt zurückgeworfen, von dem es vor 14 Jahren, um die fünf Vereidigungen dreier Präsidenten früher, zu Kennedys „neuen Ufern“ aufbrach. Die „neuen Ufer“ waren eine Fata Morgana.Heute ist von „neuen Ufern“ keine Rede mehr — die neuen Losungen lauten bescheiden: Zurück zu den alten Werten, alten Prinzipien, alten Idealen. Gemeinsam mit Gerald Ford sucht Amerika den verlorenen festen Grund unter den Füßen, es ist der vertraute Boden'der alten Ufer. Nach einer langen, gefährlichen Reise ist man glücklich, wieder dort zu sein, wo man war, und weiß zugleich, daß eine solche Rückkehr nur Illusion sein kann: Die Zeit ist nicht stehengeblieben.

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Außenpolitisch hat Amerika erhebliche Fortschritte erzielt — wenigstens auf den ersten Blick. Innenpolitisch, wirtschaftlich findet es sich weit zurückgeworfen. Die Frage, wieweit außenpolitischer Fortschritt und innen-, wirtsohafts-und sozialpolitischer Regreß Nixon gutzuschreiben bzw. anzulasten sind, erfordert eine differenziertere Betrachtung. Vom Watergate-Alp ist Amerika befreit. Aber kann Amerika nun ruhig schlafen — und mit Amerika die Welt?

Watergate hat zweierlei demonstriert. Direkt und vordergründig die Selbstreinigunigskraft der amerikanischen Demokratie, die Funktionsfähigkeit der dem amerikanischen politischen System von den Verfassungsvätern einprogrammierten Mechanismen zur Bewältigung bestimmter Krisensituationen. Auf der anderen Seite trat dann aber durch ebendieses prompte Funktionieren bestimmter, auf bestimmte Krisenmomente zugeschnittener Schutzmechanismen deren Wirkungslosigkeit in anderen Krisenmomenten zutage —; in Situationen, an die die Verfasser des Impeachment-Artikels nicht denken konnten. Und an die alle jene amerikanischen Politiker nicht gedacht haben, die durch die Anwendung des Impeachment-Artikels in fast zwei Jahrhunderten, in denen im groben Durchschnitt immerhin alle 15 Jahre ein Impeach-ment-Verfahren abrollte (wenn auch nur einmal, und ergebnislos, gegen einen Präsidenten), aus der theoretischen Möglichkeit eines Impeach-ments blutvolle RecMswirklichkeit machten.

Das Impeachment erwies sich 1974 als ein wirkungsvolles Werkzeug zur Korrektur innenpolitischer Entwicklungen. Gemessen an der Erst- und Einmaligkeit eines durch Impeachment erzwungenen Präsidentenwechsels mögen die auslösenden Faktoren lächerlich geringfügig anmuten. Man könnte immerhin die Frage stellen: Was war schon der Einbruch in das Watergate-building verglichen mit dem Zwischenfall im Golf von Tongking, den Nixons Amtsvorgänger inszeniert hatte, um den Vietnamkrieg auf Nordvietnam ausdehnen zu können, was waren schon all die Lügen, in die sich Nixon, getrieben von seinen Inquisitoren, immer tiefer verstrickte, verglichen mit den Lügen seines Amtsvorgängers über Amerikas IndochinaFriedensbereitschaft. Der Einwand, daß erst die Veröffentlichung der Pentagon-Papiere, die nach Johnsons Rücktritt stattfand, die Lügenhaftigkeit vieler seiner Erklärungen enthüllte, zieht nicht. Denn die Widersprüche in Johnsons Erklärungen, und zwischen seinen Worten und Taten, waren doch mindestens so evident wie die Ungereimtheiten, die den Watergate-Skandal initiierten. Bloß, daß damals nicht die innenpolitischen (vorwiegend emotionalen) Voraussetzungen bestanden, die im Falle Nixon dazu führten, daß der Präsident immer unaufhaltsamer in die Denfensive gedrängt und schließlich in den Abgrund gestoßen wurde.

Dies war auf zwei Faktoren zurückzuführen. Der erste ist so bekannt, daß er hier nur angedeutet zu werden braucht: Nixon war schon in den frühesten Phasen seiner Karriere ein Mann skrupelloser Methoden, und darum naturgemäß auf skrupellose Helfer angewiesen — daher der mafiose Einschlag seiner Umgebung, daher die Wähllosigkeit dieser Leute hei den Mitteln (Watergate-Einbruch), aber auch Nixons Unvorsicht, sich zum direktenMitwisser an dem Einbruch machen zu lassen. Nie zuvor :in der amerikanischen Geschichte ließ sich die Spur der Unterwelt bis ins ovale Zimmer verfolgen, und das war nun tatsächlich ein innenpolitisches Alarmzeichen, das es voll und ganz gerechtfertigt hat, alle von der ' Verfassung vorgesehenen Schutzmechanismen in Funktion zu setzen.

Doch damit sind die Motive der Nixon-Gegner und Nixon-Jäger sicher nicht erschöpft. Nixon hat Arne“ rikas politisches System nicht nur durch seine Methoden, durch den Einzug mafioser Halbweltfiguren in das Weiße Haus diskreditiert — dies wurde ja, zumindest für die Öffentlichkeit, erst nach dem Watergate-Eiribruch, also am Ende der ersten Nixon-Amtszeit sichtbar. Hingegen schälte sich schon während seiner ersten, außenpolitisch offenbar so erfolgreichen Amtszeit deutlich heraus, daß Amerikas Regierungssystem sich jenem Wendepunkt näherte, an dem die Quantität der akkumulierten Präsidentenmacht in die Qualität einer neuen, von noch stärkeren präsidialen Vollmachten geprägten Regierungsform umschlagen konnte.

Nixon war nicht zufällig ein großer Bewunderer de Gaulles. Er war der Vorkämpfer einer möglichst uneingeschränkten Präsidentenmacht, und viele seiner Schritte waren darauf ausgerichtet, diese zu stärken und die Rechte und Möglichkeiten der übrigen demokratischen Instanzen zu beschneiden. Die Jahre der außenpolitischen Erfolge Nixons waren auch die Jahre eines erbitterten Machtkampfes zwischen Weißem Haus und Kapitel, der Offensiven aus dem Weißen Haus gegen die beiden Kammern, und es waren auch die Jahre, in denen die amerikanische Presse, vor allem die intellektuelle Ostküstenpresse mit der geringen Massenverbreitung und dem großen Einfluß auf die Intellektuellen, immer mehr zurückgedrängt wurde. Trotzdem wäre es allzu vereinfachend, von einer Rache der amerikanischen Presse zu sprechen — gerade die Watergate-Attak-ken der beiden durch Watergate be-' rühmt gewordenen Reporter von der „Washington Post“ waren alles andere als Reporter-Alleingänge oder einsame Chefredakteurs-Entschlüsse, sondern die „Washington Post“ war,schon durch ihre Besitzverhältnisse, viel eher das Werkzeug des sogenannten Ostküsten-Establishments, der alten amerikanischen Oligarchie, die ein in Jahrhunderten bewährtes Regierungssystem, das letztlich ihren Interessen, auch ihren ökonomischen Interessen, am besten entsprach, aufrechterhalten wollte. Man kann sagen: Die Reg ierungs formen, die Amerikas Außenpolitik in vielen Staaten der Erde nur zu gerne sieht, sind nicht die Regderumgsformen, die Amerikas Oligarchie im eigenen Land wünscht — oder auch nur näherkommen sehen will.

Nixon hat es diesen Schichten, die sich zutiefst mit der amerikanischen Demokratie und ihrem puritanisch-moralischen Hintergrund, ihren Traditionen und Werten identifizieren, leicht gemacht, die unerwünschte Entwicklung zu einem noch stärker autoritär betonten System zu stoppen. Zuletzt dürfte er Selbstkontrolle und Wirklichkeitssinn verloren und damit sein Ende beschleunigt haben. Den wesentlichen Ansatzpunkt für den Hebel, mit dem Nixon schließlich aus seinem Sessel gehoben wurde, lieferte Nixons mafiose Umgebung und seine Involvierung in Sachverhalte, deren Aufklärung der Justiz anvertraut werden konnte. Der amerikanische Präsident ist mit Machtvollkommenheiten ausgestattet, die es Repräsentantenhaus und Senat schwermachen, wirkungsvollen direkten Einfluß auf seinen Kurs zu nehmen — sie können, mittels Gesetzen und Verweigerung von Geldern, vordergründig höchstens Obstruktion betreiben. Die Volksvertreter verfügten über keinerlei verfassungsmäßige Prozedur, die Nixon zu fürchten gehabt hätte. Uber solche Prozeduren verfügt nur die amerikanische Justiz — sie verfügte darüber bis vor zwei Jahren nur theoretisch, nun, nach der erstmaligen Anwendung dieser Prozeduren, ist das politische Instrumentarium der USA um eine konkrete praktische Möglichkeit reicher. Aber es darf nicht übersehen werden, daß im Falle Watergate die amerikanische Justiz mit ihrem Arsenal prozeduraler Möglichkeiten Werkzeug eines politischen Willens war, und zwar eines auf die Bewahrung des politischen Systems gerichteten Willens. Nixon hat die Gefährlichkeit des Bündnisses zwischen Justiz und gesetzgebenden Körperschaften zu spät erkannt. Der amerikanische Präsident kann die gesetzgebenden Körperschaften, nicht aber einen Richter ignorieren. Im Watergate-Halali haben die Richter als Treiber und die Abgeordneten als Schützen fungiert.

Das innenpolitische System der USA als ein System großer, aber deutlich begrenzter Präsidentenmacht ist aus Watergate gestärkt hervorgegangen. Schreckenavisionen eines autoritär regierten Amerika, wie sie etwa im Hochhuth-Stück „Guerillas'' ausgebreitet wurden, sind bis auf weiteres ad acta zu legen. Das Vorausdenken der Väter der Verfassung erwies sich über Jahrhunderte hinweg als richtig.

Eines aber konnten die Väter der Verfassung nicht sehen und haben sie nicht vorausgesehen: Den Aufstieg Amerikas zur Weltmacht mit den ganzen Globus umspinnenden machtpolitischen Interessen. Die außenpolitische Allmacht der Präsidenten der USA beruht darauf, daß die Außenpolitik weit außerhalb des Blickwinkels der Männer stand, die die Verfassung der Vereinigten Staaten schufen. Außenpolitik war damals gleichbedeutend mit möglichen Angriffen von außen, Außenpolitik bestand in den Augen der Verfas-sungsautoren sozusagen aus Krisenmomenten, die mir bewältigt werden konnten, wenn der Mann an der Spitze, eben der Präsident, in der Lage war, schnell und das hieß: in eigener Machtvollkommenheit, zu handeln. Der Präsident als Chef der Außenpolitik ist so, wie er in der Verfassung angelegt ist, eigentlich ein Krisenmanager, dem niemand in den Arm fallen soll. Außenpolitik als kontinuierliche Politik, Außenpolitik als Machtpolitik, und erst recht Außenpolitik als Welt-Innenpolitik und Überlebensinteresse der Welt: hier hat die amerikanische Verfassung ihr gewaltiges Vakuum“.

Die amerikanischen Präsidenten haben dieses Vakuum nach Gutdünken gefüllt. Als oberste Chefs der amerikanischen Außenpolitik agierten sie in einem Niemandsland der amerikanischen Demokratie. Hier hat wahrhaftig eines Tages Quantität in Qualität umgeschlagen, hat die Kumulierung militärischer und rü-stunigswirtschaftlicher Macht das Wesen des amerikanischen Präsidentenamtes im Innersten verändert, den inneramerikanischen Primus in-ter pares zu einem das Schicksal des Globus mitbestimmenden Halbgott für die Welt gemacht Und zweifellos war die Unabhängigkeit des Präsidenten von parlamentarischer Mitbestimmung und Kontrolle seiner Außenpolitik, seine Einsamkeit in der-außenpolitischen Willensbildung, ein Hauptfaktor dafür, daß die USA zum kongenialen Partner der Sowjetunion bei der Aufteilung der Welt in Einflußsphären wurden.

Denn dank dieser Konstellation entwickelte sich die Weltmacht Amerika, einst ausgezogen, die Welt für Freiheit, Demokratie und Selbstbestimmung zu missionieren, gemäß der Eigendynamik purer Machtausübung und Machtaufteilung. Nixons außenpolitische Erfolge beruhen nicht zuletzt darauf, sichtbar gemacht zu haben, was schon war, klare Verhältnisse geschaffen zu haben. Das Charisma des Metternich-Bewunderers Kissinger erscheint heute als logischer Höhepunkt einer amerikanischen Außenpolitik, die sich von der amerikanischen Innenpolitik, von ihren Kräftespielen ebenso wie von ihren innersten Beweggründen, ihren puritanisch-moralischen Wurzelgründen, total emanzipiert hat.

Die Popularität der Außenpolitik, die Nixon und Kissinger gemacht haben, beruht darauf, daß sie klare Verhältnisse geschaffen, vor allem aber den Vietnamkrieg beendet haben, womit Nixon wohl bewußt in die Fußstapfen seines Lehrmeisters Eisenhower trat, der den Koreakrieg liquidierte. Was bevorsteht, ist weniger schön und auch weniger populär — ein Triumph des Grundsatzes „divide et impera“. Teilen und herrschen als ultima ratio einer Außenpolitik, deren Moral auf die Vermeidung von Krieg und Weltuntergang eingeschrumpft ist.

Die USA haben mit der Sanierung des Watergate-Sumpfes eine schwere innenpolitische Krise bewältigt und folgenreiche innenpolitische Fehlentwicklungen verhindert: Aber nach der Beendigung des Vietnamkrieges und nach der Herstellung des Weltmächte-Konsensus wird, die Gretchenfrage an die amerikanische Außenpolitik immer überfälliger. Erstmals in der amerikanischen Geschichte mußte ein Präsident abtreten. Er mußte gehen, weil er von einem Einbruch gewußt, er mußte gehen, weil er gelogen hat. Sein Vorgänger konnte seine Amtszeit in Ehren beenden und sich als schmollender, aber doch respektierter Pensionist zurückziehen, obwohl er im Golf von Tongking einen Kriegsgrund konstruiert, einen Krieg erschwindelt hatte. Dieses Mißverhältnis sollte das Selbstverständnis Amerikas als einer in moralischen Grundsätzen wurzelnden, ihre Politik auf moralischen Prinzipien aufbauenden Nation bis zu jenem Grade strapazieren, der die große Selbstbesinnung erzwingt.

Ein außenpolitisches Watergate wird es nicht geben, wenn Watergate für die Bereicherung des politischen Instrumentariums um juristische Prozeduren steht, denn die Zuständigkeit der Richter endet dort, wo die Außenpolitik beginnt — an den Grenzen des amerikanischen Hoheitsgebietes. Außenpolitische Watergates wären aber notwendig, wenn Watergate im Sinne eines dem Präsidenten gesetzten „Bis hierher und nicht weiter“ verstanden wird. Denn der gestellte Zwischenfall im Golf von Tongking, die Invasion in der Dominikanischen Republik oder die Einführung des griechischen Obristenregimes unter CIA-Hilfe waren Ereignisse, gegen die Watergate wohl verblaßt. Wenn Amerika zu seinen moralischen Prinzipien zurückfinden will, muß die Erneuerung hier ansetzen.

Denn es steht der mächtigsten Nation des angeblich freien Westens nicht wohl an, wenn in ihrem Einflußbereich Diktaturen unter der Mithilfe oder zumindest wohlwollenden Duldung des US-Geheimdienstes entstehen, wenn Amerika, immer deutlicher erkennbar, sich lieber auf Diktatoren als auf Demokraten verläßt, wenn die Demokratie zwar für die Amerikaner, nicht aber für die Vasallen für gut befunden wird.

Auch wenn die amerikanische Demokratie nach Watergate gerettet scheint — eine zynische, janusgesichtige Außenpolitik läßt sich ohne Rückwirkungen auf die Innenpolitik nicht auf die Dauer durchhalten. Le- ■ benslügen zehren am Mark. Nicht nur der Menschen, sondern auch der Nationen.

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