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Das KGB als Ghostwriter

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Eine verbitterte, alternde Frau schreibt nieder, was sie über und gegen Alexander Solschenizyn (mit dem sie fast ein Leben lang verheiratet war) zu sagen hat. Auf den ersten Blick scheint „Lieber Alexander — mein Leben mit Solschenizyn“ (Verlag Desch, Mühchen) ein Memoirenbuch wie viele andere zu seift, eine private Abrechnung, im Grundtenor kaum gehässiger als das, was so manche andere gekränkte Frau über ihren berühmten Mann sagte. Doch ein wesentlicher Umstand macht das vorliegende Buch bemerkenswert, macht es zum Dokument: Natalja Reschetowskaja, Solschenizyns erste Frau, lebt nach wie vor in der Sowjetunion und ist alles andere alseine Dissidentin.

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Eine verbitterte, alternde Frau schreibt nieder, was sie über und gegen Alexander Solschenizyn (mit dem sie fast ein Leben lang verheiratet war) zu sagen hat. Auf den ersten Blick scheint „Lieber Alexander — mein Leben mit Solschenizyn“ (Verlag Desch, Mühchen) ein Memoirenbuch wie viele andere zu seift, eine private Abrechnung, im Grundtenor kaum gehässiger als das, was so manche andere gekränkte Frau über ihren berühmten Mann sagte. Doch ein wesentlicher Umstand macht das vorliegende Buch bemerkenswert, macht es zum Dokument: Natalja Reschetowskaja, Solschenizyns erste Frau, lebt nach wie vor in der Sowjetunion und ist alles andere alseine Dissidentin.

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Das Buch, das sie über Solschenizyn geschrieben hat, gibt denn auch nicht nur Einblick in die Psyche von Natalja Reschetowskaja, die sich von der einer unter ähnlichen Umständen sitzengelassenen Amerikanerin, Deutschen oder Französin nur unwesentlich unterscheiden dürfte. Es gibt auch wertvolle Einblicke in die Methoden des KGB, der allmächti-ten sowjetischen Geheimpolizei, einen Emigranten, der dem Ansehen der Sowjetunion gefährlich werden könnte, in Mißkredit zu bringen.

Denn daß das KGB der Frau Reschetowskaja beim Schreiben nicht nur über die Schulter geschaut, sondern stellenweise auch die Feder geführt hat, ergibt sich nicht nur aus allem, was man über die KGB-Me-thoden weiß, sondern es wird auch aus dem Text des Buches deutlich erkennbar.

Wobei man aber neidlos anerkennen muß: Sie haben gelernt. Sie haben den Holzhammer beiseite gelegt und erkannt, daß man mehr erreicht, wenn man die feineren Register zieht. Die Stellen, die Solschenizyn diskreditieren sollen, sind sehr geschickt verpackt.

Den harten Kern bildet dabei die Anschuldigung, Solschenizyn habe in den Vernehmungen, die zu seiner ersten Verurteilung 1945 führten, seine eigene Situation verbessert, indem er Unschuldige belastete. Es lohnt sich, diese Stelle zu analysieren. Man kann dabei die Feinheiten der verleumderischen Maßarbeit studieren. Natalja Reschetowskaja — beziehungsweise die Hand, die ihr die Feder führte — schrieb:

„Was weiter mit Witkewitsch geschah, geht aus seinem Brief hervor. Er wurde ungefähr einen Monat später verhaftet, nachdem Solschenizyn mitgeteilt hatte, Witkewitsch hätte .versucht, eine illegale Organisation zu schaffen... Seit 1940 systematisch antisowjetische Agitation betrieben ... Pläne für eine gewaltsame Veränderung der Politik der Partei und des Staates ausgearbeitet, Stalin verleumdet' (und zwar .bösartig'!) usw. Er bekam zehn Jahre. Zwei Jahre mehr als Solschenizyn.

Die anderen hatten Glück.

Es klingt paradox, aber es ist eine Tatsache, daß der Untersuchungsrichter einige Menschen vor den Bezichtigungen meines Mannes in Schutz nehmen mußte. Zwar reimt sich das nicht mit Solschenizyns .Theorie' zusammen, es hätte schon genügt, den Namen eines Menschen zu nennen und gleichzeitig an seine Adresse eine beliebige, selbst noch die absurdeste Anschuldigung zu richten, damit der Unglückliche sich im Langer wiederfand. Ich hoffe indessen, daß es ihm nicht leid tut, sich in der Unverbrüchlichkeit seiner Theorie geirrt zu haben, indem wir nämlich in Freiheit blieben.

Alles ging verhältnismäßig harmlos aus. Höchstwahrscheinlich hätten weder Witkewitsch noch ich uns jemals wieder diesen längst vergangenen Dingen zugewandt, wären nicht die von Halbheiten strotzenden und unaufrichtigen Auslassungen im ARCHIPEL gekommen, in jenem ARCHIPEL, der einen solchen Anspruch erhebt, .Stimme der Wahrheit', .echte Wahrheit' zu sein.“ (Ungekürzter Auszug; alle Auslassungspunkte stammen von der Verfasserin.)

Es wäre leichtfertig, zu behaupten, um dieser Sätze willen habe Frau Reschtowskaja ihre Erinnerungen an Solschenizyn geschrieben. Aber um dieser Sätze willen wurden ihre Erinnerungen publiziert, um dieser Sätze willen zur Verbreitung im Ausland freigegeben — beziehungsweise ins Ausland lanciert. Frau Reschtowskaja hatte es nicht notwendig, ihr Manuskript mühsam aus der Sowjetunion herauszuschmuggeln. Und man erweist ihr zweifellos eine Ehre, wenn man davon ausgeht, daß sie obige Sätze nicht selbst geschrieben hat, was auch mit hoher Wahrscheinlichkeit der Wahrheit entspricht. Denn diese Stelle (und einige andere, in denen geschickt immer wieder daran erinnert wird) wirken nicht nur wie Fremdkörper in dem ansonsten ehrlich und persönlich wirkenden Text, sie entsprechen auch allzu haargenau den Interessen eines von Solschenizyn gründlich verunsicherten Staatsapparates.

Der Vorwurf, Solschenizyn habe andere Personen belastet, ist doppelt verlogen. Er ist es erstens, weil er nur von jenen stammen kann, die Solschenizyn zu acht Jahren Zwangsarbeit verurteilt haben, sei es, daß dies erwähntem Witkewitsch damals vom Untersuchungsrichter, sei es, daß es ihm oder Natalja Reschetowskaja später mitgeteilt wurde. Wer immer Solschenizyns „Verrat“ als Tatsache bezeichnet — er kann es nur vom KGB (beziehungsweise seinerzeitigen NKWD) gesteckt bekommen haben. .(Enthüllungen“ aus KGB-Quellen aber disqualifizieren sich wohl selbst.

Zum zweiten aber ist dieser unerhörte Anwurf deshalb verlogen, weil hier die gemeinsten Methoden der stalinistischen Folterknechte gegen eines ihrer Opfer gekehrt werden. Alexander Solschenizyn mag, als er — in der Sowjetunion — seinen „Archipel Gulag“ schrieb, geglaubt haben, der Welt darin Neuigkeiten mitzuteilen. Tatsächlich hat er sie aber nur an Dinge erinnert, die sie seit den zwanziger und dreißiger Jahren weiß und allenfalls verdrängt. Daß Stalins Geheimpolizei, ob sie gerade Tscheka, GPU, NKWD oder später KGB hieß, ihren Opfern absurde Sammelsurien von Namen und Listen groteskester Anschuldigungen abpreßte und daß es meistens tatsächlich genügte, einen Namen zu nennen, „damit der Unglückliche sich im Lager wiederfand“, weiß man nicht erst von Solschenizyn, nicht einmal erst seit den großen Moskauer Schauprozessen, sondern seit den zwanziger Jahren.

Daß der Untersuchungsrichter Menschen vor den Anschuldigungen Solschenizyns in Schutz nehmen mußte: Wenn Natalja Reschetowskaja das wirklich glaubt, muß sie ihren Mann sehr hassen — oder viele Jahrzehnte ihres Lebens mit geschlossenen Augen und Ohren verbracht haben. Wie gesagt — sie hat es wahrscheinlich nicht geschrieben. Ins Lächerliche' aber schlagen die Bemühungen um, Verleumdungen harmlos klingen zu lassen, wenn dem Leser treuherzig versichert wird, ohne das Buch „Archipel Gulag“ hätten Witkewitsch und die Reschetowskaja sich nicht wieder „diesen längst vergangenen Dingen zugewandt“. Ist Witkewitsch nun zehn Jahre gesessen oder nicht? Wenn ja, waren diese zehn Jahre wohl kaum nur eine Episode, die nicht wert ist, noch einmal darauf zurückzukommen. Es sei denn im Gespräch mit regimetreuen Leuten wie Solschenizyns Exfrau. In einem solchen Fall freilich könnte das Erscheinen des Gulag zum Anlaß eines vom KGB gewünschten Gespräches zwischen zwei „Solschenizyn-Opfern“ geworden sein.

Trotzdem wird diese Pflichtübung in Verlogenheit Wirkung entfalten. Im Wind aus Helsinki — wie immer man das Abkommen als reines Poli-tikum werten mag — weht ja auch wieder einmal der Geist der Verdrängung, des Appeasement, des Nichtzurkenntnisnehmens der Unmenschlichkeit, um besser schlafen zu können. Man mag Solschenizyn in seiner Attitüde als kalter Krieger gar nicht sympathisch finden — begreiflich, daß er die Entspannung nicht schätzt, aber er sollte verstehen, daß die Menschen, wo sie sich (noch) ihrer Freiheit erfreuen, Entspannung und Frieden zur Freiheit wünschen. Aber warum soll man sich, bei aller notwendigen Entspannung unter der atomaren Drohung, nicht dessen bewußt, sein, was jenen Menschen angetan wird, für deren Befreiung, maa nun einmal keinen Kreuzzug führen kann, will und soll?

Solschenizyn erinnert die Welt in seinem „Archipel Gulag“ an Bekanntes, aber Verdrängtes, Vergessenes, in den Hintergrund Geschobenes. Als Gefahr für die Entspannung der Großmächte ist er nicht ernst zu nehmen, aber ein Solschenizyn ist sehr wohl geeignet, das intellektuelle Kokettieren mit der Sowjetunion und deren moralische Aufwertung via Fashionabilität zu stören. Daher muß ihm das Handwerk gelegt werden. Er ist einem ganzen Haufen liebenswerter Leute im Westen, die ihre prosowjetische Lebenslüge hätwie der Sowjetunion selbst. Ihnen liefern Natalja Reschetowskaja und das KGB die vergifteten Pfeile. Sie werden sie zu gebrauchen wissen. Solschenizyn, der seine Freunde verraten hat — man wird das in diversen westlichen Zirkeln und Postillen demnächst des öfteren serviert bekommen. Gerade deshalb ist es notwendig, die Kernsätze dieser Verleumdung zu analysieren.

Doch es lohnt sich, auch den „harmlosen Rest“ des Buches, und das ist der größere Teil, zu lesen.

Hier wird, absichtlich oder nicht, vieles von dem, was sich unter der KGB-Redaktion frontal gegen Solschenizyn kehrt, relativiert, zurückgenommen, fallweise geradezu ins Gegenteil verkehrt. Und was in den Zeilen steht, verkehrt sich zwischen den Zeilen oft in sein Gegenteil.

Expressis verbis dargestellt wird Alexander Solschenizyn als ein Mann, der sich früh von seiner Umgebung zu isolieren beginnt, und durch Starrsinn und Selbstgerechtigkeit daran gehindert wird, die Kritik seiner Mitmenschen zu akzeptieren und sich von ihnen auf den rechten Weg zurückführen zu lassen. Nicht nur ein Egoist großen Kalibers, sondern vor allem ein Egozentriker durch und durch.

Der Alexander Solschenizyn aber, der dabei indirekt zum Vorschein kommt, ist ein anderer. Zwischen den Zeilen entsteht das Bild eines Schwierigen, eines Ringenden. Eines Mannes, der absolute Ansprüche an sich und seine Umgebung stellt und pausenlos über sich und seine Umgebung reflektiert. Nataljas Erinnerungen wirken durchaus glaubwürdig, wo aus ihr die gekränkte und enttäuschte Frau spricht, etwa, wenn sie räsoniert, Solschenizyn, der einst der Meinung war, „jeder könne ein Kind zur Welt bringen, aber nur er sei dazu imstande, eine Romanserie zu schreiben“, habe seine Meinung in diesem Punkt gründlich geändert. Richtig, der alte Alexander Solschenizyn gefällt sich in der Rolle des jungen Vaters, sie aber ist kinderlos. Aber sie findet kein Wort, oder darf keines darüber finden, daß Solschenizyns Lagerjahre ja auch dafür verantwortlich sein könnten, daß ihr Kinder versagt blieben. Aber die Lagerjahre — und jene, die dafür verantwortlich waren — will oder darf sie nicht anklagen. Und natürlich kein böses Wort über Stalin. Und schon gar kein Wort über Chruschtschow.

Weshalb dieses Buch auch um so blasser wird, je näher es zur Gegenwart kommt. Der Erfolg des „Iwan Denissowitsch“ hat sich offensichtlich nur im Westen abgespielt. Welchen Stellenwert er im „Tauwetter“ hatte — Natalja schweigt. Daß sich Chruschtschow selbst für die Veröffentlichung einsetzte — Natalja schweigt. Daß Solschenizy das Buch einer verlorenen Generation, mehrerer verlorener Generationen geschrieben hat — Natalja schweigt. Aber sie bemäkelt, daß er nicht diesen oder jenen wohlgemeinten Rat annahm

Doch durch all die aktiven Lügen des KGB, und durch all die Lügen durch Verschweigen, die Natalja Reschetowskaja begeht, wird der Mensch Solschenizyn immer besser sichtbar. Und deutlicher als je zuvor wird hier nicht das Endprodukt einer Entwicklung, der Solschenizyn von heute, gezeigt, sondern ein langsames, aber konsequentes Werden.

Alexander Solschenizyn mußte Natalja Reschetowskaja wohl als ein unbegreifliches, unkontrollierbares Wesen erscheinen, als ein Ausbund an Unangepaßtheit in einer Umgebung, die Anderssein und gar Andersdenken oft wohl tatsächlich für eine seltsame Geisteskrankheit hält. Und es wird sehr deutlich, daß Natalja Reschetowskaja die glücklichsten Jahre ihres Lebens in eben jener Zeit verlebte, in der ihr Mann im Lager war. Liebe von ferne zwischen diesen beiden Menschen — das konnte gut gehen. Im Alltag mußte sie scheitern. Denn sie identifiziert sich voll und ganz mit der Gesellschaft, in der sie lebt, mit den Leistungsanforderungen, sie macht Karriere als Chemieprofessorin, darüber hinaus stellt sie keine Fragen. Keine Fragen, die den naturwissenschaftlichen Bereich überschreiten. Auch Solschenizyns Wendung zur Religiosität — die sich unter dem Druck des Lagerlebens und der Krebserkrankung vollzieht — erscheint ihr wie eine seltsame, bizarre Geisteskrankheit. Das Lager als Realität der sowjetischen Gesellschaft verdrängt sie sogar in den Jahren, in denen sie ihren Mann zunächst besuchen und später nur noch zweimal im Jahr Briefe mit ihm wechseln darf. Umstände, die als Gegebenes hingenommen werden. Keine weitere Frage.

Womit wir bei der interessantesten Dimension dieser „Erinnerungen“ angelangt wären — und bei der einzigen, die eine so anfechtbare, zwielichtige Publikation allenfalls vielleicht rechtfertigen mag. Ob Natalja Reschetowskaja nun wirklich schrieb, was sie schreiben wollte, oder ob sie ein Meisterstück der Anpassung geliefert hat (was eher unwahrscheinlich ist, denn ihre Aggressionen gegen Solschenizyn dürften mittlerweile alles umfassen, was er verkörpert) ylr niemand, auch Alexander Solschenizyn nicht, könnte das totale Unverständnis so gültig ausdrücken, das eine gleichgeschaltete, total konformistische Umwelt einem Einzelgänger und „Dissidenten“ wie Solschenizyn entgegenbringt.

Mit einer Harmlosigkeit, aus der die unreflektierte Hinnahme des Gegebenen spricht, erwähnt Natalja mehrmals die Schwierigkeiten, die dadurch entstanden, daß sie — als Professorin für Chemie an einer Universität — ihren eingesperrten Mann stets verleugnen mußte und ihm nicht einmal von ihrem Wohnort aus Pakete ins Lager schicken konnte, weil das ihre Stellung und damit auch die materielle Basis ihrer Verwandten gefährdet hätte. Wie demaskierend das ist, fiel offenbar nicht einmal den KGB-,Lektoren auf. Kein Wunder — die Selbstverständ-, lichkeit des Absurden unterläuft jede Zensur.,

Und ihr eigenes Staunen über die unablässige Beschäftigung des freigelassenen Solschenizyn mit der Realität des Terrors projiziert Natalja nach außen, wenn sie schreibt: „In den Strom der Gedanken und Erinnerungen an die nahe Vergangenheit versenkt, dürfte Solchenizyn aufrichtig darüber gestaunt haben, daß das Interesse für die gemeinsam durchlittenen Jahre bei seinen früheren Gefährten nachgelassen hatte. In ihrem Leben erklang immer lauter eine andere Musik“.

Nataljas Erinnerungen enden sehr abrupt. Wie Alexander Solschenizyn seine Frau Natalja fast verlassen hätte, dann aber doch bei ihr blieb, erfährt man noch in allen Details — wie und warum es aber später zum endgültigen Bruch kam und wer ihn vollzog — Schweigen.

Am Ende ein Huxley-Zitat, wonach alles, was einem Menschen zustößt, ihm selbst unweigerlich ähnlich sieht. Es soll die Häßlichkeit Solschenizyns symbolisieren, der sich „von seinen Freunden, von seiner Familie, von seinem Volk“ abgrenzte. Auf sich selbst hat Natalja Reschetowskaja dieses Zitat nicht bezogen. Sie lebt ja im Einklang mit ihrem Volks, so darf man wenigstens hoffen — an ihrem Einklang mit dem KGB aber ist nicht zu zweifeln.

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