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Das Kind und die Kinder

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Das Jahr des Kindes geht - das Kind in der Krippe kommt. Wir treten bald in das letzte Fünftel eines Jahrhunderts ein, von dem die italienische Pädagogin Maria Montessori meinte, es werde einmal als das des Kindes in die Geschichte eingehen. Und auch dies gehört wohl dazu: 2400 Kinder werden allein in Deutschland bis Jahresende geboren sein, deren Eltern zeitlebens eine zusätzliche Last aufgebürdet ist. Ihre Kinder sind spastisch gelähmt.

Ein Professor der Neurologie befragte Zeitgenossen: wissen Sie etwas von dem Ursprung dieser Krankheit? Die Antworten waren falsch und verräterisch in ihrer Selbstenthüllung: Die Mütter sind daran schuld. Sie haben getrunken, Tabletten geschluckt, geraucht. Gemeint war: die Kinder müssen für die Sünden der Mütter (warum eigentlich nicht der Väter?) büssen. Die Antworten auf die zweite Frage konnten daher nicht mehr umwerfen: Welche Empfindungen haben Sie,' wenn Sie spastisch Gelähmten begegnen? Antwort: abstoßend, ekelerregend.

Und nun: das Kind in der Krippe. Pausbäckig, lebensstrotzend, eher wie ein Zweijähriger, als wie ein Neugeborener aussehend - so präsentieren es uns die Maler. Mit diesem Kind ist Staat einzulegen, rufen uns Tizian und Giorgione zu! Staat einzulegen ist aber auf keinen Fall mit uns, die wir uns, 1979 Jahre nach der Geburt Jesu, der sich selbst als Menschensohn bezeichnete, vor anderen Menschenkindern ekeln.

Das Kind und die Kinder - wir haben beide voneinander getrennt und sind damit in unserem Unglauben überführt. Aber dieses Kind dort in der Krippe, wie es die Maler darstellen, ist bereits eine unfromme Erfindung. Zu nichts anderem gut, als unsere Blicke von dem abzulenken, was aus dem in der Fremde geborenen und dann in drittklassiger Umgebung aufgewachsenen Jesus von Nazareth wurde: dem Mann des „Ich aber sage euch“, des „Selig sind die Friedensmacher“ und des „Ich bin der gute Hirte“. Dem Mann, den am bitteren Ende alle verließen und dessen Rang nur der Heide Pilatus mit der Inschrift über dem Kreuz unübersehbar machte. Dem Mann, dessen Auferweckung uns neues Leben schenkt.

Er hatte keine Gestalt noch Schöne. Die Weissagung des Jesaja, auf den leidenden Gottesknecht am Kreuz bezogen, läßt sich schwer mit dem „holden Kind im lockigen Haar“ zusammenreimen. Als wir den Kult um die weihnachtliche Geburt erfanden, wurde uns der Blick auf den Mann verstellt, von dem allein alle Selbstverständlichkeiten dieser Welt in Frage gestellt werden. Eigenliebe, Nächstenhaß, Welt flucht, um nur einige zu nennen. Zugleich wurde uns aber auch der Blick auf die Kinder der Welt, unsere eigenen nicht ausgenommen, verstellt. Die Norm des lebensstrotzenden, pausbäckigen Wunderkindes von Bethlehem ist sicherlich mit daran schuld - was nicht „normal“ ist, muß folglich mit Schuld und Strafe Zusammenhängen. Am einfachsten so, daß die Eltern schuld sind und Gott die Strafe verhängte. Wir sind noch einmal davongekommen und können uns beruhigt gewohnter Tätigkeit zuwenden - in Eigenliebe, Nächstenhaß.

Und dann schlagen wir zu Weihnachten das Evangelium weiter um und erleben die Menschen, nun nicht mehr und in erster Linie Kinder, mit denen es der Mann Jesus zu tun bekommt. Aussätzige, wegen ihrer Krankheit von der Gesellschaft Ausgesetzte, Blinde, Konjunkturritter wie der Zöllner, deshalb geächtet, weil sie öffentlich Erfüllungsgehilfen einer Besatzungsmacht waren, gegen welche alle anderen verbal protestierten, um dann doch ihre Hilfe in Anspruch zu ■nehmen: keiner entsprach der gesellschaftlichen und religiösen Norm, alle waren Abgesonderte, Sünder. Dieses Kainsmal, von den „Gerechten“ ihnen eingebrannt, wandelt Jesus zum Segenszeichen.

Weihnachten im Jahr des Kindes: wo sind die Menschen, denen die Solidarität mit allen, welche außerhalb der Norm leben müssen, über die Bewahrung der eigenen frommen Integrität geht? Die erkennen, daß kein Wunderkind die wirklichen Wunder in dieser Welt - Vergebung, Versöhnung, Barmherzigkeit und Gemeinschaft - zustande bringt, sondern nur ein angestrengtes Hören auf die Worte des Mannes, dessen sich die Welt rasch genug entledigte, weil er ihre fromm-unfrommen Kreise störte und zu dem sich dann Gott selbst in der Auferweckung unübersehbar bekannte?

Weihnachten will ein neuer Anfang für unseren Glauben sein. So sehr liebt Gott uns, daß er seinen einzigen Sohn in unsere Mitte sendet, damit wir uns von ihm in die Welt senden lassen. Daß wir diese Tage der Freude nur nicht schon wieder zu einem Ende machen! Das Kreuz und die Krippe sind aus dem gleichen Holz geschnitzt, beide lassen sich nicht voneinander trennen. Wer das Kind ansieht, kann seine Augen nicht mehr von den Kindern abwenden, am wenigsten von den Spastis unter uns. Sie mahnen uns, am Ende des Jahres der Kinder, stellvertretend für alle Geplagten und Leidenden: macht euch mit uns solidarisch, so wie Gott sich mit euch zu Weihnachten solidarisch erklärte. In der Krippe von Bethlehem. Der Herr der Welt - ein kleines Kind.

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