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Das klassische Völkerrecht ist total überfordert

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Die dramatischen Umwälzungen, die in den letzten beiden Jahren die Welt verändert haben, stellen auch für das Völkerrecht eine gewaltige Herausforderung dar. Das Ende des Ost-West-Konflikts, der Kollaps des Kommunismus, die deutsche Wiedervereinigung, die Auflösung der östlichen Supermacht Sowjetunion, der Zerfall Jugoslawiens - all diese Entwicklungen, die auch das Entstehen neuer Staaten brachten - haben in ihrer Dynamik bedeutende Schwachstellen des geltenden Völkerrechts erkennen lassen.

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Die dramatischen Umwälzungen, die in den letzten beiden Jahren die Welt verändert haben, stellen auch für das Völkerrecht eine gewaltige Herausforderung dar. Das Ende des Ost-West-Konflikts, der Kollaps des Kommunismus, die deutsche Wiedervereinigung, die Auflösung der östlichen Supermacht Sowjetunion, der Zerfall Jugoslawiens - all diese Entwicklungen, die auch das Entstehen neuer Staaten brachten - haben in ihrer Dynamik bedeutende Schwachstellen des geltenden Völkerrechts erkennen lassen.

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Das internationale Recht als bislang weltweit anerkannter Ordnungsund Sicherheitfaktor läuft somit Gefahr, seine friedensstiftende und konfliktverhütende Funktion zu verlieren. Ein wichtiger Grund für das angesichts der aktuellen Umbrüche deutlich gewordene Auseinanderklaffen zwischen den neuen Realitäten und den Grundsätzen des internationalen Rechts liegt im anachronistischen Konzept des klassischen Völkerrechts.

Dieses geht nämlich von einem politischen Zustand aus, in dem die souveränen Staaten die hautpsächli-chen Akteure auf dem Feld der internationalen Beziehungen waren. Nach wie vor sind es die Staaten, die als die primären Völkerrechtssubjekte angesehen werden.

Andere international mächtige und wirksame Faktoren wie etwa die Medien, ideologische oder religiöse Bewegungen erfaßt das etatistische Völkerrechtskonzept ebensowenig wie die nationalistischen Aufbrüche,

die gegenwärtig Europa erschüttern.

Die überkommene Fiktion des autarken, völlig unabhängigen und souveränen Staates läßt sich freilich im Hinblick auf den dynamischen westeuropäischen Integrationsprozeß, die neue globale Zusammenarbeit im Rahmen der Vereinten Nationen oder die regionale Kooperation über die Grenzen hinweg immer weniger aufrechterhalten. Dazu kommt die fortschreitende juristische Emanzipation des Einzelmenschen gegenüber dem Staat, etwa im Bereich der Menschenrechte.

Verletzungen - ohne Strafe

Die Unabhängigkeit des Staates im Sinne des klassischen Völkerrechts würde bei der heutigen Vernetzung der internationalen Beziehungen eine totale Isolation bedeuten. Nicht nationalstaatliche Lösungansätze, sondern nur verstärkte internationale Bemühungen um eine Zusammenarbeit im Geiste der Solidarität werden imstande sein, neue rechtliche Strukturen für ein friedliches Zusammenleben der Völker zu schaffen.

Eine weitere Ursache für das gegenwärtige Unbehagen über das Völkerrecht besteht in der unbestreitbaren Tatsache, daß es so häufig verletzt wird. Gerade der bewaffnete Konflikt in Jugoslawien lieferte wieder ausreichend Anschauungsmaterial für diese betrübliche Feststellung. Verletzungen des humanitären Völkerrechts bleiben in der Regel mangels wirksamer Durchsetzungsmechanismen ohne Sanktionen, das heißt: ohne Strafe für den einzelnen Rechtsbrecher.

Es kann nicht übersehen werden, daß die Autorität des Völkerrechts durch dessen Nichtbeachtung schwe-

ren Schaden leidet. Auch mußte in der jugoslawischen Krise die bittere Erfahrung gemacht werden, daß die Instrumente, die das Völkerrecht zur friedlichen Beilegung von Streitfällen anbietet, erst reichlich spät und unzureichend genutzt wurden.

Die aktuelle Krise des Völkerrechts zeigt sich zum anderen darin, daß es auch thematisch nicht gelungen ist, zeitgerecht auf die großen Weltprobleme am Ausgang des 20. Jahrhunderts zu reagieren und für sie adäquate rechtliche Lösungen anzubieten. So bestehen etwa im Bereich des in-

ternationalen Umweltschutzes zur Zeit nur bescheidene Ansätze für verbindliche Regelungen und die bisherigen Vorbereitungen für die diesjährige in Rio de Janeiro anberaumte Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung lasseh wenig Optimismus aufkommen. Für das immer brennender werdende Problem der Bevölkerungsexplosion, für die brisanten Fragen der Wanderungsbewegungen oder des geordneten Zusammenlebens verschiedener Volksgruppen in einem Gebiet, um nur einige zentrale Bereiche mit ei-

nem dringenden völkerrechtlichen Regelungsbedarf anzuführen, gibt es derzeit nur Lösungsansätze.

Die Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen, die mit der Kodifizierung und Weiterentwicklung des Völkerrechts betraut ist, befaßt sich bedauerlicherweise mit keinem einzigen der erwähnten Themen, sondern konzentriert ihre nicht geringen intellektuellen und materiellen Ressourcen auf Fragen von zweitrangiger Bedeutung wie etwa auf die Ausarbeitung eines Konventionstextes über den Status des diplomatischen Kuriers.

Dekade des Völkerrechts

Der vorliegende ernüchternde Befund darf freilich nicht zu Defaitismus und Resignation führen. In einer zerrissenen und konfusen Welt, in der die alte Ordnung zusammengebrochen und eine neue noch nicht in Sicht ist, bedarf es mehr denn je des internationalen Rechts, um die Interessengegensätze und -konflikte in einer zivilen Weise auszugleichen. Alle, die für die Fortentwicklung des unverzichtbaren Völkerrechts Verantwortung tragen, sollen daher bemüht sein, einen kreativen Beitrag zu dessen Anpassung an die grundlegend veränderten politischen, sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse zu leisten. Die von den Vereinten Nationen Anfang 1991 ausgerufene Dekade des Völkerrechts bietet auch für die führenden österreichischen Völkerrechtsex-perten den gegebenen Anlaß, ihrerseits zeitgemäße und tragfähige Denkanstöße in die internationale Diskussion um eine Reform des Völkerrechts einzubringen.

Der Autor ist Stellvertretender Leiter des Völkerrechtsbüros im Außenministerium.

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