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Das Krankenhaus ist selbst Patient

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Herr Österreicher hat das Krankenhaus entdeckt. Nicht, daß er es im Krankheitsfall nicht schon immer gerne und ausdauernd in Anspruch genommen hätte — er erkennt es jetzt als Aufgabe, als Problem, als eine Sache, die nicht einfach da ist, wenn man sie braucht, sondern auch in der Politik und in der Wirtschaft berücksichtigt werden will.

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Herr Österreicher hat das Krankenhaus entdeckt. Nicht, daß er es im Krankheitsfall nicht schon immer gerne und ausdauernd in Anspruch genommen hätte — er erkennt es jetzt als Aufgabe, als Problem, als eine Sache, die nicht einfach da ist, wenn man sie braucht, sondern auch in der Politik und in der Wirtschaft berücksichtigt werden will.

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1967 standen in 319 Krankenanstalten 76.973 Betten zur Verfügung, die von rund 1,1 Millionen Patienten an mehr als 25 MiiliLionen Pflegetagen benützt wurden — so steht es im „Bericht über das Gesundheitswesen in Österreich im Jahr 1967” zu lesen. International verglichen, können sich diese Zahlen durchaus sehen lassen. Pro Kopf der Bevölkerung stehen dem Österreicher verhältnismäßig mehr Spitalsbetten zur Verfügung als den Bewohnern aller anderen Länder Europas. Dieser an und für sich erfreuliche Umstand schlägt sich allerdings auch in der durchschnittlichen Verweildauer nieder, die mit mehr als 23 Tagen einschließTch der Heilstätten und mit nur wenig unter 20 Tagen in den Krankenanstalten allein ebenfalls weit über dem internationalen Durchschnitt liegt. Und damit kommt zum medizinischen Problem das wirtschaftliche, denn jeder Pflegetag kostet Geld.

Lange Jahre wunde der quantitativ hohe Standard im Krankenanstaltenwesen, der ja auch mit einem beachtlichen qualitativen Standard verbunden war und ist, mit stolzgeschwellter Brust als ein Zeichen einer ausgeprägten sozialen Gesinnung und einem hohen Rang der Gesundheitspolitik in der Wertskala registriert’ Aus diesem Blickwinkel nähmen Gemeinden, Beitragsbezirke, Krankenanstalten sprenge!, Länder und der Bund die wachsenden Defizite der Krankenanstalten in Kauf, denn schließlich ist — nach einer weitverbreiteten Ansicht — die „Gesundheit das Höchste”. Und deshalb durfte man dem Krankenanstaltenwesen nicht mit dem Rech er,stift zu Leihe rücken.

Nach und nach erhielt das Selbstbewußtsein der Gemeindevätet der spitalerhaltenden Gemeinden, der verantwortlichen Landespolitiker und aller sonst einschlägig Tätigen manchen angen Dämpfer. Die Kosten stiegen unaufhaltsam und ihre Zuwachsrate hielt sich hartnäckig über den Steigerungsraten des Lebenshai tungskostenindex, der Steuereingänge und der Beiträge der Sozialversicherungsträger. Arbeitszeitverkürzung, Personalprobleme und ständig steigende Sachkosten von der administrativen Seite, die Entwicklung immer neuer Geräte, Apparaturen und Behandlungsmethoden ebenso wie die Zunahme der Unfälle und allerlei Wohlstandserkrankungen von der ‘medizinischen Seite stellten immer neue Anforderungen an die Kostenträger. Die Sozialversicherung, die ursprünglich einen kleinen Mengenrabatt auf die für noch relativ viele Patienten im vollen Umfang geltenden Pflegegebühren erhalten hatte, schaltete um und bemdßt nun ihre Pflegegebührensätze nach ihrer Leistungsfähigkeit und nicht mehr in einem Prozentsatz der für Selihstzahler geltenden Pflegegebühren. Damit — und mit der Ausweitung der Sozialversicherung, die den Selbstzahler zur Seltenheit macht — haben diese Pflegegebühren Bedeutung nur noch als Bemessungsgrundlage für den „Zweckzuschuß” des Bundes und klettern ohne Scheu in astronomische Höhen. Die spitalerhaltenden Gemeinden stöhnen unter der Last der ständigen Zuschüsse an „ihr” einst mit viel Stolz gepriesenes Krankenhaus und können viele wichtige — zum Teil auch gesundheitlich-sanitär relevante — Aufgaben nicht oder nur unzureichend lösen, weil das Krankenhaus das gesamte Budget auffrißt.

Die Krankenversicherungsenquete des Sozialmdnisters beschäftigt sich — wie man hört — weit intensiver mit dem Krankenanstaitenproblewi, als ursprünglich vorgesehen war. Die ÖVP erklärte in ihrer jüngsten Klausur in Baden dieses Problem als eine der vordringlichsten Aufgaben der Partei — sie kann ja immerhin für sich in Anspruch nehmen, daß Minister Rehor als erste das Problem auf Bundesebene aufgegriffen und in ihrer Krankenanstaltenenquete eine Reihe brauchbarer Ansätze für eine Neuordnung des Krankenanstaltenwesens erarbeitet bat.

Sind diese Dinge nur dem unmittelbar befaßten Politiker, Spitalsarzt oder Verwalter, vielleicht auch noch einem besonders interessierten Leser einschlägiger Publikationen geläufig, so gibt ės auch Anzeichen für eine Wendung zum Schlechten, die auch Außenstehenden zu denken geben. Immerhin ist sich wohl die Mehrheit der Tatsache bewußt, daß jedermann irgendwann einmal das Krankenhaus brauchen wird.

Da ist einmal die Tatsache, daß die Entwicklung der Medizin zu einer weitverzweigten Spezialisierung der Arzte und der technischen Einrichtungen und damit auch zu einer Art Spezialisierung der Krankenanstalten führt — eine Erscheinung, die im Zeitalter des hochentwickelten Verkehrs durchaus problemlos, wäre, weil die “Entfernung des Krankenhauses vom Wohnsitz des Patienten belanglos geworden ist. Ist aber nicht mehr jedes Krankenhaus in der Lage, dem Großteil der anfallenden Patienten medizinisch optimale Behandlung zu bieten und ist dies auch nicht länger erstrebenswert, so bedarf es einer regionalen Planung und überregionaler Koordinierung. Leider fehlt derzeit beides — ganz ,m Gegenteil führen Prestigedenken und persönlicher Ehrgeiz zu gigantischen Fehlinvestitionen. Statt sich auf politischer oder medizinischer Ebene mit der Nachbarfcrankenanstalt ah- zustimmen und für jede einzelne Anstalt neben den Standardfächern Schwerpunkte festzulegen, werden bedenkenlos und buchstäblich ohne Rücksicht auf Verluste Abteilungen eingerichtet und Apparaturen angeschafft, nur weil sie im Nachbar - krankenhaus vorhanden sind und der Herr Bürgermeister oder der Chefarzt es mit seinem Ansehen nicht vereinbaren au können gliaubt,

daß es in A-Stadt etwas gibt, was in B-Stadt „fehlt”.

Da ist weiter der Umstand, daß es an Krankenanstalten für Alters- krankhedten und für chronisch Kranke fehlt, daß aber medizinisch ungenügend eingerichtete und nach ihrer Größenordnung strukturell notleidende kleine Krankenanstalten aufrechterhalten werden, obwohl eine nahegelegene größere Anstalt die Patienten unschwer ohne oder mit geringen Investitionen aufnehmen könnte.

Jeder, der einmal eine Krankenanstalt auf suchen mußte, weiß um den Ärztemaingel insbesondere der kleinen Anstalten auf dem flachen Lande. Es ist verständlich, daß es für einen Arzt nicht besonders reizvoll erscheint, lange Dienstzeiten voll von Routinefällen zu absolvieren, die ihn belasten, ohne den Reiz interessanter Fälle oder eine Möglichkeit der Weiterbildung zu bieten. Ausländische Ärzte aber, die überdies auch nicht unbeschränkt greifbar sind, können nur selten das für einen positiven Heilungsverlauf unabdingbare Vertrauensverhältnis zum Patienten hersteilen. Die Sprachen- barriere ebenso wie die oftmals doch fremde Denikungsweise sind hie? nur schwer überwindbare Hindernisse. Der Rettemmanged ist ungeachtet der hohen Pro-Kopf-Zahl an Spitalsbetten beinahe sprichwörtlich. Ist jemand krank und hat tatsächlich ein Bett bekommen, so wird dies in Wien und in manchen anderen Städten einem Treffer in der Lotterie gleich- gesetzt. Neben den überlangen Aufenthaltsdauern ist hier der Mangel an Pflegepersonal — der in Wien zur Stillegung ganzer neuerrichteter Abteilungen führte — verantwortlich. Um so verwunderlicher erscheint es dem Laien, daß er, einmal im Krankenhaus, offensichtlich ohne Rücksicht auf die Verweildauer behandelt wird. Da ist einmal die Fünftagewoche, die nur im Falle akuter Lebensgefahr eine echte Behandlung am Samstag oder Sonntag zuläßt, da ist die Übung, grundsätzlich alle erforderlichen diagnostischen Maßnahmen im Krankenhaus zu wiederholen, auch wenn die Diagnose einwandfrei feststeh-t und alle Befund ę, wenn auch nicht aus dem eigenen Labor, aufldegen. Da ist die Tatsache, daß es oft sehr schwer ist, aus einem Spitalsbett wieder herauszukommen da ist zuletzt das Klassensystem, das — international seit geraumer Zeit in Diskussion — nun auch in Österreich in Frage gestellt wird.

Versuch einer Diagnose

Wie so manche Krankheit der Menschen hat das Leiden der Krankenanstalten eine psychische Fehlhaltung zur tieferen Ursache. Eine Krankenanstalt isit weder eine primär soziale Einrichtung noch gar ein Aushängeschild für die sie erhaltende Gebietskörperschaft, sondern vor allem eine Einrichtung zur Sicherung der Volksgesumdiheit, die eine optimale medizinische Versorgung unter widmungsgemäßer und wirtschaftlicher Verwendung der vor den Patienten (oder ihrer Versiche rung) und der öffentlichen Hand zur Verfügung gestellten Mittel sicherzustellen hat. Steht auch die medizinische Versorgung an erster Stelle, so kann sie doch kein Freibrief sein für Verschwendung oder falsche Großmannssucht. Im betriebswirtschaftlichen Sinn ist auch eine Krankenanstalt Unternehmen und verpflichtet, wirtschaftlich zu denken und zu arbeiten, wo dies ohne Be-

einträchtigung der medizinischen Versorgung möglich ist. Wirtschaftlich denken und arbeiten kann aber nur, wer über eine gesunde Kapitala-usstattung und eine realistische Gebarung verfügt. Und da liegt es dm argen. Die Krankenanstalten sind „unterkapitalisiert”, sie sind nicht in der Lage, Maßnahmen der Reorganisation, der Rationalisierung zu setzen, weil das Geld fehlt.

Die wirtschaftliche Basis der Krankenanstalten sind die nicht einmal die Betriebskosten deckenden Pflegegebührenersätze der Sozialversicherungsträger, die Aufzahlungen für die — im Gesetz mit 20 Prozent limitierten — Klassebetten und die gesetzlich verankerte Deckung des Betriebsabganges durch den Träger der „gehobenen Gebührenklasse” und die Gebietskörperschaft. Das bedeutet für den Verwalter: Auskommen kann ich mit dem Geld ohnehin nicht, der Verlust wird in jedem Fall bezaMt. So kann man beim besten Willen nicht wirtschaften.

Aus den Symptomen und der Diagnose ergeben sich klare Ansätze für die Therapie. Sie muß nach einem Gesamtplan von verschiedenen Seiten her in Angriff genommen werden. Der WHO-Bericht, die Memoranden des Hauptverbandes der So- ziaiversicherungsträger, die Aktion 20 und die Krankenanstaltenenquete des Ministeriums Rehor sind sich im wesentlichen einig. Einrichtung, Umbau oder Erweiterung dürfen nicht länger allein vom Interesse, der Tüchtigkeit oder der Durchschlagskraft eines Primarius, eines Bürgermeisters abhängen. Soll eine optimale medizinische Versorgung der Gesamtbevölkerung erreicht werden, ist eine ins Detail gehende regionale Standortplanung unter Berücksichtigung der Bevölkerungsdichte, der Berufsstruktur der Bevölkerung und der geographischen wie der Verkehrslage erforderlich. Ansätze dafür gibt es in einzelnen Bundesländern.

Die Planung muß die Tendenz zur Spezialisierung und zur verstärkten Inanspruchnahme teurer Geräte tyid Apparate berücksichtigen. Es wird unterschiedliche Kategorien von Krankenanstalten geben müssen, mit unterschiedlichen Aufgaben und differenzierter Ausstattung.

Die übliche „Klasseneinteilung” wird schon eifrig diskutiert — das aus dem Ausland übernommene Schlagwort vom klassenlosen Krankenhaus spukt auch durch österreichische Köpfe. So auf den ersten Bück erscheint es sehr sozial, sehr erstrebenswert. Geht man den Dingen auf den Grund, bleibt nicht allzuviel übrig. Was will man mit dem „Klassenlosen”? Eine Umfrage in der

Bundesrepublik zeigte es auf: die Abschaffung der großen Säle, eine gleichmäßige medizinische Betreuung, eine längere Besuchszeit und eine „bessere Pflege”.

Große Säle sind in den neuen und erneuerten Krankenanstalten schon seit einiger Zeit nicht mehr vorgesehen. Die Abstufung der objektiven Qualität der medizinischen Versorgung nach Gebührenklassen wurde und wird maßlos überschätzt. Der harte Kern dieser Vorstellung ist nur die freie Arztwahl, die bisher den Klassepatienten Vorbehalten war. Sae aber ist weniger das Ergebnis einer medizinischen Qualifikation als des sehr subjektiven und emotionellen „Vertrauens” zu einem best mm ten Arzt, das allerdings in seiner Bedeutung für den Genesungsverlauf nicht zu gering zu veranschlagen ist. Eine transparente Diensteinteilung, die aufzeigt, daß schwierige Fälle immer dem spezialisierten und bestqualifizierten Arzt zur Behandlung zuge- wdesen sind, könnte das bestehende Mißtrauen abbauen helfen. Eine freiere. Gestaltung dar Besuchszeit ist mit der Umstellung auf kleinere Pflegeeinheiten ohne weiteres durchführbar. Die Wünsche der Rufer nach dem „Klassenlosen” sind also weitgehend erfüllbar. Das hat allerdings nichts damit zu tun, daß eine individuelle Wähl des Standards in Unterbringung und Betreuung ebenso wie unter gewissen Umständen die freie Arztwahl erhaben bleiben müssen — ob man nun dazu Klasse sagt oder nicht. Unvermeidbar ist aber, daß der Mehraufwand zur Erfüllung solcher Wünsche vom Patienten zu bezahlen ist und daß eine außerplanmäßige Inanspruchnahme eines Arztes Honorarforderungen ausdöst. Es darf dabei nicht übersehen werden, daß die Honorare der Privatpatienten einen wesentlichen Teil des Einkommens der Spitalsärzte darstellen und der Entfall dieser Binkomrnensteile manchen Arzt aus den öffentlichen Krankenanstalten vertreiben könnte.

Auch hinsichtlich der Finanzierung münden adle Überlegungen in grundsätzlich gleichartigen Vorschlägen: Das Budget der Krankenanstalten darf nicht auf der Abgangsdeckung, es muß auf kostendeckenden Pflegegebühren und einem den Erfordernissen entsprechenden Bereitstet- lungsfdnds aufbauen. Aus diesem Bereitstellungsfönds — zu dem der Träger der Krankenanstalt ebenso wie die öffentliche Hand beizutragen hätten — sind alle Auslagen, die sich aus der Errichtung, Umgestaltung oder Erweiterung der Anstalt ergeben, ferner Abschreibungen vom Wert der Liegenschaften usw. zu decken. Die Pflegegebühren sind hingegen das tägliche Entgelt für die Unterbringung, die ärztliche Untersuchung und Behandlung, die Beistellung von Arzneimitteln, für Pflege und Verköstigung, und sind in voller Höhe vom Patienten oder seiner Versicherung zu tragen. Erscheint eine volle Übernahme dieser Pflegegebühren unmöglich, so wäre im Sinne einer „Subjektförderung” von der öffentlichen Hand die Differenz pro Pflegetag zu übernehmen, ab einer bestimmten Einkommenshöhe könnte an die Stelle dieses Zuschusses eine Kostenbeteiligung des Patienten treten.

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