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Das Land der Phäaken

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Täglich geht das Fährschiff abends von Brindisi nach der griechischen Insel Korfu. Der wunderbare Anblick des unberührten Inselmorgens, der auch heute noch jeden Reisenden in seinen Zauber schlägt, läßt uns Odysseus verstehen. Es ist die erste der jonischen Inseln und güt als Vorposten Griechenlands. Wer’ hier landet, wird alsbald mit dem Hymnus Salomons, des großen

Dichters der Insel, sprechen: „Laßt uns die Sorgen des Alltags oblegen …” Hier werden sie einfach weggewischt von den überreichen antiken Ausblicken, denen man auf Schritt und Tritt begegnet. Das Meer spiegelt von türkis zu dunkelblau und flaschengrün und ist glasklar, ohne jede Verschmutzung. Grün bewachsehe Berge, steüe Felsabfälle und sanfte Sandstrände wechseln einander ab.

Ganz besonders der Blick auf die Bucht vor Kanoni im Süden der Hauptstadt, die vorgelagerten Inselchen und die dichtbewaldete Küste ist von einer solchen Pracht, strahlt eine so heitere Ruhe aus, daß er auch seinen Eindruck auf die ruhelose Kaiserin Elisabeth nicht ver fehlte. Hier ließ sie ihr Traumschloß, das Achilleion, hinbauen. Sie hat das Schloß mit einer Statue des sterbenden Achilleus schmücken lassen. Wilhelm II. erwarb später den Besitz. Seiner triumphalistischen Vorstellungswelt widersprach ein zu Tode getroffener Achilleus. Er ließ an seine Stelle einen siegreichen Recken stellen, der eher einem Germanen aus Wagners „Ring des Nibelungen” gleicht als dem blondgelockten Achilleus des Homer.

Einer der prachtvollsten Landschaftspunkte ist Paleokastrizas im Norden der Insel, das als Herrschaftssitz des Alkinoos angesehen wird. Es liegt zwischen kleineren und größeren Buchten und wirkt von dem Aussichtsort Lakones aus so unsagbar schön, daß man das Auge nicht davon wenden kann. Hier mußte es dem listenreichen Odysseus gefallen. Bis heute sind noch keinerlei Spuren des Palastes des Phäakenkönigs gefunden worden, wenngleich auf diesen Platz die Beschreibung Homers genauestens stimmt. Die Begegnung mit der grandiosen Landschaft, dem Meer, den Bergen von Epiros, in Verbin dung mit dem klassischen Abenteurer suggerieren förmlich Lebensfreude, von Geist und Gefühl gleichermaßen hervorgerufen.

Die Bucht von Paleokastrizas wird gegen Norden hin von einem bewaldeten Felsen abgeschlossen, auf dem ein Kloster steht, das heute nur noch von einem halben Dutzend Mönche bewohnt wird. Der Nachwuchs fehlt vollständig und man kann sich ausrechnen, wann dieses bodenständige flachibögige Bauwerk mit seinem vierkantigen Glockenturm und den ehrwürdigen alten Ikonen völlig verlassen sein wird… bis auf den sommerlichen Touristenstrom — ein Museumsstück mehr, doch ohne Leben.

Korfu oder Kerkyra ist das Land der Phäaken geblieben. Die Menschen wissen zu leben und zu genießen, hier gibt es noch keine Hetzjagd, es geht gemächlich alles seinen Lauf. Die Griechen des Mutterlandes sagen von ihnen, sie hätten ein leichtes Leben, denn „es wächst ihnen alles ins Maul.”

Hunderte von Tavernen gibt es auf der Insel. An Hummern, schwarzem Tintenfisch und sämtlichen griechischen Spezialitäten kann man sich laben. An der Westküste reiht sich ein kleines Tanzlokal an eine Taverne. Dort tanzen abends gern die Touristinnen mit den Kellnern der umliegenden Hotels den Sirtaki, der übrigens jedem Zuschauer gerne beigebracht wird. Alle sollen an der korfioti- schen Lebensfreude teilhaben, und darum soll auch jeder mittanzen.

Auf der Insel zählt man etwa 3 Millionen ölbäume. Sie wachsen hier keineswegs seit dem Altertum. Als die Insel venezianischer Besitz war, legten die Venezianer bares Geld auf den Tisch für jeden gepflanzten Ölbaum. Es war eine großartige Investition! Heute kostet ein ausgewachsener Ölbaum etwa 1000 Drachmen. Seine Instandhaltung kommt auf 10 Drachmen im Jahr, jedes zweite Jahr wird geerntet. Eine fünfköpfige Familie kann bescheiden von 150 ölbäumen leben, ohne einer andere Arbeit nachgehen zu müssen.

Kommt man in ein Dorf, sitzen die’ Alten neben der Haustür und nähen oder drehen die Spindel, doch junge Leute, ja selbst Kinder sind kaum zu sehen. Sie verlassen die Bergdörfer und suchen sich andere, für sie erstrebenswertere Lebensmöglichkeiten. Die Kargheit und die Einsamkeit der Heimat sind heute kein Lebensboden mehr für sie. Die Bauern- und Dorfhäuser sind recht ärmlich und äußerst primitiv. Meist bestehen sie bloß aus einem Raum, der „Rauchkuchl”, die gleichzeitig Schlafstätte für Mensch und Vieh ist. Tisch, Stühle Und der Waschtrog stehen vor dem Hause. Ist es da ein Wunder, wenn sich die jungen Leute gerne in den ungezählten Hotels und Tavernen der Insel verdingen?

Schon für die Römer war Korfu der Schlüssel zum Orient. Von hier aus operierten die Feldherren Sulla, Caesar, Pompeius und Marc Anton. Der wichtigste Anlegeplatz war damals das alte Kassiopi. Es war der Hauptumschlagplatz zwischen Hellas und dem Römischen Reich. Trotz dieses wichtigen Handelsplatzes im Norden der Insel ist die Stadt Kerkyra stets der geistige Mittelpunkt geblieben. Schon zur Zeit des Tyrannen Periander wurde hier ein großer Artemistempel erbaut, der durch seine bemalten Reliefs und Friese berühmt war.

In der Stadt findet man noch Spuren von Ostrom und Byzanz, wie die Stadtmauern und die Kirche der Agii Jason und Sosipatros. Im Mittelalter waren Normannen und Seeräuber die Herren der Insel, gegen Ende des 14. Jahrhunderts kam sie dann unter die Herrschaft Venedigs, die vierhundert Jahre lang dauerte. Das stüvolle Rathaus geht auf sie zurück. Graf Schulenburg, von Prinz

Eugen empfohlen, verteidigte die Insel erfolgreich gegen die Türken.

Während Griechenland und große Teile Jugoslawiens lange Zeit von den Türken besetzt waren, stand Korfu niemals unter türkischer Herrschaft. Noch heute prägt die jahrhundertelange Geschichte das eigenartige Kolorit. der Stadt Ker- kyra. Die Anlage erinnert an Dubrovnik, die alten vielstöckigen

Häuser an Neapel, dazu die Bazarstraße, die den nahen Orient andeutet; doch ist hier alles viel sauberer, reinlich, fröhlich und farbenfroh.

Durch den Wiener Kongreß fiel Korfu als Freistaat an England. Auch die 50 Jahre englischer Oberhoheit haben der Stadt ihren Stempel aufgedrückt. Das venezianische Rathaus wurde zum Klubhaus der Engländer, und — wo gibt es das sonst? — mitten in der Stadt wurde ein Kricketplatz eingerichtet, der heute noch in Betrieb steht! 80 Prozent der Touristen sind Engländer, im Sommer sind sie die Herren der Insel.

1864 wurde Korfu mit dem griechischen Mutterland vereinigt. Trotz des wechselvollen Schicksals und ihrer etwas abseitigen Lage hat die Insel bei der Emanzipation Griechenlands eine hervorragende Rolle gespielt. Dichter und Schriftsteller aus Korfu, die in Mitteleuropa kaum bekannt sind, hatten eine ausschlaggebende Bedeutung für die moderne griechische Umgangssprache und für die Integration der gesamten Inselwelt. Diese Rolle Korfus in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts ließ aus der Insel wieder das alte griechische Kerkyra werden, das sich trotz der langen Verbundenheit mit Venedig für Griechenland entschieden hat.

Kerkyra ist griechisch-orthodoxer Bischofsitz. Der verstorbene Patriarch Athenagoras war 1922 zum Bischof von Kerkyra und Paxos gewählt worden. Es gibt hier nur etwa 1500 Katholiken, meist Italiener, die seit dem Krieg hier leben. Und doch kam gerade hier in Kerykyra durch Athenagoras die erste Begegnung der Orthodoxen mit den Katholiken zustande. Von hier aus fand der Patriarch den Weg nach London, wo er die Probleme der Ökumene eingehend kennenlernte.

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