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Das Land ohne Richter

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Am ersten Tag entrissen die Studenten den Sarg dem offiziellen Trauerzug. Sie trugen ihn im Triumph auf die Universität und setzten ihn in der Aula bei. Am nächsten Tag stürmten zwei Regimenter Militär die Universität und holten den Sarg zurück, in die offizielle Gruft. Die Folge: Studentenaufruhr, Ausnahmsrecht, Chaos in Rangoon. Mit dem makabren Spiel um den Leichnam des verstorbenen U Thant beginnt der Kampf um das Erbe des Präsidenten Ne Win. Ne Win hat Krebs. Die Krankheit reißt ihn von der Kommandostelle des Militärsozialismus in Burma.

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Am ersten Tag entrissen die Studenten den Sarg dem offiziellen Trauerzug. Sie trugen ihn im Triumph auf die Universität und setzten ihn in der Aula bei. Am nächsten Tag stürmten zwei Regimenter Militär die Universität und holten den Sarg zurück, in die offizielle Gruft. Die Folge: Studentenaufruhr, Ausnahmsrecht, Chaos in Rangoon. Mit dem makabren Spiel um den Leichnam des verstorbenen U Thant beginnt der Kampf um das Erbe des Präsidenten Ne Win. Ne Win hat Krebs. Die Krankheit reißt ihn von der Kommandostelle des Militärsozialismus in Burma.

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Sein Militärsozialismus hat den demokratischen Sozialismus des U Nu im Coup von 1962 abgelöst. Die Märkte in den Städten von Burma sind wie aparte Schneehalden. Die landwirtschaftliche Produktion ist auf 60 Prozent von 1962 gesunken. Die industrielle Produktion ist nicht viel mehr als das sporadische Klappern einiger Mühlen. Die Rebellionen der Minderheiten, der Karen und der Shan und der beiden kommunistischen Guerillatruppen „Rote Fahne” und „Weiße Fahne” entziehen große Sektoren des Landes der zentralen Verwaltung. Das ist der Zustand nach zwölf Jahren totalen Militärsozialismus und völliger Isolation von der Welt. Nur wenn man von Bangladesh kommt, atmet man ln Burma auf; die Menschen hier leben wenigstens, sie agieren und reagieren, und es ist noch etwas Nahrung da, in dem Land, das einmal das gesegnetste der Region war.

Mehr als zwölf Jahre hat U Nu im Ausland auf die Ablöse gewartet Ich sprach mit ihm 1969 in Hongkong; unvorstellbar erschien ihm die Geduld, die Leidensfähigkeit — oder die Lethargie seines Volkes. Zum Verständnis trug freilich bei, daß Ne Wins Militärsozialisten sich die Erfolge, die ihnen im Kampf mit den Guerilleros versagt waren, bei der Verfolgung der Sozialisten holten. Wer einmal als Parteigänger U Nus bekannt war, verschwand im Gefängnis; wer an dieser idealen Mischung aus Nationalismus, Isolationismus und Sozialismus Kritik übte, verschwand überhaupt. Und langsam trat auch ein, was überall kommt, wo eine Militärgruppe im Namen der nationalen Moral die Macht an sich ■reißt. Die Offiziere übertrelfen die abgesetzten Zivilpolitiker an Korruption und Schiebung und verteidigen ihre Raubpositionen mit terroristischen Methoden. Der schwarze Markt entwickelte sich zu einer Parallelwirtschaft und Paralleladministration. Alles gibt es in Burma zu kaufen, was aus dem Westen als Hilfsgut nach Bangladesh geliefert wird; Chinesen besorgen den „Import”, die Offiziere sorgen für „Verteilung” und für „Schutz”.

Hinter fast vollständig verschlossenen Grenzen verfaulte ein Land. Doch Burma hatte regionalpolitische Bedeutung; südlicher Nachbar Chi-

nas, Übergangsterritorium zwischen China und den südostasiatischen Ländern. Das innenpolitische Versagen Ne Wins war zum Teil durch außenpolitische Erfolge ausgeglichen. Trotz einiger Krisen hatte Ne Win das Vertrauen Chinas; die Politik der verschlossenen Türen gegenüber westlichen Reisenden war eine gute Basis. Ne Win schaltete Burma in die Großraümprojekte Chinas mit den Ländern der ASE AN-Association, (Thailand, Indonesien, Malaysia, Philippinen, Singapur) ein. Zusammen versuchen diese Staaten zu verhindern, daß die Großmacht und die Rivalitätskämpfe vom Indischen Ozean über die Meeresstraßen įn Südostasien, besonders der Straße von Malakka ihre Gewässer verunsichern. Sie hielten die Schleusen ziemlich dicht und setzten indischen Großraumgeilüsten eine absolute Grenze. Trotz des guten Verhältnisses mit Peking war Moskau gut gesinnt und half gelegentlich.

Die innenpolitische Willkürherrschaft und das Chaos wurden in den letzten Monaten so groß, daß Ne Win die normale, von den Engländern in Ihren Prinzipien übernommene Gerichtsbarkeit aufheben mußte. Das „Recht der Imperialisten und der Kolonialisten” wurde im September 1974 für ungültig erklärt. Gerichtshöfe gibt es nicht mehr. Volksgerichte traten an ihre Stelle. Juristen sind arbeitslos geworden. Denn der Richter muß kein Richter sein und dem Angeklagten steht nicht das Recht auf Verteidigung und auf einen Verteidiger zu. „Wenn das Recht nicht im Interesse meines Klienten ist, sag ich, es ist ein Kolonialistenrecht gegen die Arbeiterklasse”, erklärte ein „Volksanwalt” bei einem der ersten Prozesse, der am 17. November 1974 in Rangoon stattfand. Der ange- klagte „Arbeiter” war ein Oberst aus Ne Wins Armee. Die Anklage lautete auf private Sequestrierung im Verlauf einer Handelsoperation — im „Interesse des Volkes”. Das Urteil lautete natürlich auf Freispruch.

In Rangoon ist der Mörtel von allen Häusern abgebröckelt. Zu Kaufen gibt es auf den freien Märkten so gut wie nichts. Beamte, Offiziere und Funktionäre leben aktiv und ■passiv vom Schwarzen Markt, die anderen Menschen leben vom fruchtbaren Land. Liegt Bangladesh in einer progressiven Paralyse, so ist in Burma einfach das Leben verebbt. In dieser Situation kam U Thants Leichnam nach Rangoon. Ne Win wollte den stillen Gegner seines Regimes als Säule seines Regimes beisetzen. In diese Situation kam die Nachricht von der Krankheit des Präsidenten. Die Studenten wollten den Kampf um die Nachfolge einleiten. Das Notrecht der alleinherrschenden Mili- täres hat dann Ruhe geschaffen. Tausende Studenten sind in die Ebenen, eu den Guerilleros, gezogen.

Und jetzt, da die Ablöse des sterilsten und isolationistischsten Regimes in Asien so nahe zu sein scheint, ist der Staatsmann des buddhistischen Sozialismus, U Nu, zu alt und in weiter Feme.

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