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Das Land, wo die Zitronen nun reif sind

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Wie konnte es kommen, fragen sich viele, die seit Jahrzehnten mit Italien vertraut zu sein glaubten, daß dieses herrliche Land auf einmal in eine Krise gerät, die es an den Rand der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft gedrängt hat.

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Wie konnte es kommen, fragen sich viele, die seit Jahrzehnten mit Italien vertraut zu sein glaubten, daß dieses herrliche Land auf einmal in eine Krise gerät, die es an den Rand der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft gedrängt hat.

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Dem nachzugehen ist freilich nicht leicht, doch Werner Raith, seit 30 Jahren dort wohnhaft, Privatdozent, jetzt Journalist, hat es versucht, und mit Erfolg, denn er erlebt den zermürbenden Alltag des Italieners wie dieser selbst und hat sich auch mit der Geschichte des Landes gründlich befaßt. So weiß er sehr gut, daß dieser Niedergang nicht von ungefähr kam, und überdies, daß wachsender Wohlstand fast immer wachsendes Elend mit sich bringt, welches natürlich den Wohlstand bedroht und die Gesellschaftsordnung neuerlich gefährdet.

Wenn nämlich vor rund 50 Jahren zunächst mit Eifer aufgebaut wurde, sodaß es, nach den Jahren der Diktatur und des Krieges, trotz aller Entbehrungen ein Vergnügen war, wieder in Freiheit zu leben und tüchtig schaffen zu können, so machten sich doch schon sehr bald ein Hasten und Rennen bemerkbar und schließlich der krasseste Materialismus.

In dieser Umwelt gediehen vorzüglich auch die Parteien. Und es ist interessant zu verfolgen, wie die politische Führung in ihren Methoden sich von Anfang an mit denen der Mafia weitgehend deckte, und wie beide zu Mächten wurden, die heute alles beherrschen und eigentlich eine neue Diktatur darstellen, sodaß man sich nicht mehr als Staatsbürger, sondern als Untertan fühlt. Um da überleben zu können, mußte der einzelne die gleichen, sagen wir ruhig: Mafia Methoden für sich in Anwendung bringen, tagtäglich, jeder auf seine Art, von der Steuerhinterziehung an über eine äußerst bequeme Dienstauffassung und Nachlässigkeit im Beruf, der Schwarzarbeit halber, bis zum offenen Protest und heißesten Streik. Nur um sich schadlos zu halten.

Zugute kamen und kommen ihm dabei seine Intelligenz, sein Individualismus, sein akuter, die Gesetze interpretierender und sie umgehender Verstand, denn bei aller Legalität, die unabdingbar und notwendig ist, scheint ihm die persönliche Not nur dadurch gewendet, daß er trachtet, in jedem neuen Gesetz sofort auch die Möglichkeit von dessen Umgehung zu finden, wobei sich das Sprichwort „Fatta la legge - trovato l'inganno” als den Tatsachen entsprechend erweist. Man kann eben, trotz aller Engmaschigkeit, ständig auch Lücken entdecken. Auf der Hut sein, ist die Parole, jedes wie immer geartete Tun gleich hinterfragen, hinter die Dinge also zu sehen versuchen, so Werner Raith, damit es nicht auf einmal kein

(Schirmer/Mosel Verlag) Entrinnen mehr gibt. Derart ist stets alles in Bewegung, auf der Suche nach dem eigenen Vorteil und der Möglichkeit, andere zu überlisten, nicht nur im öffentlichen, sondern auch im privaten Bereich.

Übervorteilung ist Schlauheit

Die Übervorteilung ist, weil ein Beweis von Intelligenz, besonders im Süden keine ausgesprochen böse Tat, nicht ehrenrührig, weil sie eine Herausforderung darstellt, der geistigen Kräfte nämlich des andern, seiner Geschicklichkeit auch. Dummsein wäre nur Schande, die Schlauheit aber und Schlitzohrigkeit, mit allem, was dazugehört, erhöhen das Ansehen. „II piü furbo di tutti”, der Schlaueste von allen, wäre demnach am besten für das Amt der Führung des Staates, der Regierung, geeignet, welche der Volksmund als „governo ladro” bezeichnet und letztlich für jeden Mißstand verantwortlich macht, da „der

Fisch beim Kopf zu stinken beginnt”, wie ein weiteres Sprichwort trefflich bemerkt. Leider stimmte das auch, im Lauf der jüngsten Jahrzehnte, wenn nicht schon immer, in diesem schönen, von vielen ausgebeuteten Land.

Nun war das Maß auf einmal voll und ging über. Das Chaos war da. Es mußte so kommen. Die Italiener sind und waren nie große Planer, sondern warten meistens so lange, bis es fast zu spät ist. Erst unter äußerstem Druck, von welcher Seite auch immer, kommt etwas zustande. Jetzt ginge es darum, die extreme Stunde zu nützen und endlich Verantwortungsbewußtsein zu zeigen, von Seiten aller und jeder Partei gegenüber, um das „arrangiar-si” zu lassen und sich von der nur scheinbar demokratischen Zentralgewalt zu befreien. La Malfa, der Sprecher einer Minderheit, hat gemeint, man müßte in erster Linie die Kommandostellen auswechseln und dann die nationale Mentalität völlig umstellen, was schier unmöglich scheint. Ein Weiterwursteln käme auf keinen Fall mehr in Frage, das weiß man genau, denn Änderungen hatten bisher nur den einen und einzigen Zweck, alles beim alten zu lassen.

Wie das geschah und, wer weiß, auch jetzt noch geschieht, zeigt Werner Raith in kleinen und kleinsten Berichten, so etwa vom einfachen Mann, den er wie ein italienisches Urgestein dastehen sieht, vom Unrecht, das man der ihm persönlich bekannten Familie Moro angetan hat, und natürlich analysiert er Neapel, auch Mailand und die geheime Angst vor Europa, Erscheinungen, die der dort lebende Ausländer kennt, da der Italiener in seinem Mitteilungsbedürfnis immer wieder davon spricht, ja sich dabei selbst gerne anklagt. Der Fremde freilich weiß nichts oder wenig, auf jeden Fall nicht genug von den ursächlichen Zusammenhängen italienischer Lebensumstände und ist mit seinem Urteil rasch bei der Hand, weiß alles besser, fällt also den grobsten Vorurteilen zum Opfer.

Nun aber steht Italien ein Umbruch bevor, der noch dazu von außen, von der EG provoziert worden ist, wodurch einmal mehr die stets geschickt manipulierte Allgemeinheit in ihrem nationalen Stolz verletzt worden ist. Das schlachten nun wieder die Medien aus, und die Verwirrung wird nur noch größer. Da werden Stimmen laut, die die regionale Eigenständigkeit fordern und auch solche, die den Faschismus beschwören. Es ist der Gegensatz von Demokratie und Diktatur, von friedlicher Völkergemeinschaft und Nationalismus, zum Nachteil übrigens auch Südtirols, wo das Erreichte abermals in Gefahr gerät.

Der politischste Papst

Diese Lage berührt gewiß auch die Kirche. Es geht ja um die „moralische Frage”, wie eine Gesellschaft funktionieren und der Umgang der Menschen miteinander beschaffen sein müßte. So kommt es auch zwischen dem, wie Werner Raith sagt, „politischsten Papst seit der Renaissance” und den Vertretern einer von der Gegenwart in besonderem Ausmaß geforderten Theologie zu Auseinandersetzungen, die zwar zusätzlich belasten, doch - wie alles, was Menschen zum Nachdenken und Diskutieren veranlaßt - durchaus positiv zu bewerten sein müßten.

Noch ist nicht abzusehen, ob die bereits vorhandenen Kräfte einer Erneuerung sich behaupten und durchsetzen können. Italien muß sich zwar mit eigener Kraft aus seiner, wie man hört, verzweifelten Lage befreien, doch können wir es durch'Beweise der Freundschaft und unser Verständnis sehr wohl unterstützen.

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