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Das Leben eines Rebellen

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Sie haben George Fernandez verhaftet, in Kalkutta, wo der Kampfboden am heißesten, das Leben am bittersten ist, auf der Talsohle Indiens. George kam aus einer Enklave katholischer Armut im Süden Indiens. Er wurde in den Chawls der Hafenarbeiter, den grimmigsten Mietskasernen von Bombay, Sozialist. Er ist Präsident der Sozialistischen Partei Indiens, die nur noch als Briefkopf erlaubt ist, Präsident der Eisenbahnarbeitergewerkschaft, deren Rückgrat sie brechen wollen, und Führer eines einsamen Widerstandes im Meer des Hinnehmens und des Konformismus. Als er verhaftet wurde, war er allein.

Vom politischen Gebäude, das Indien einst war, gibt es nur noch die Trümmer der zerschlagenen Opposition. Und sie selbst, die das Gebäude zertrümmert hat. Indira Gandhis Zeitwende war nicht die Befreiung, sie kam 28 Jahre später. Der Ausnahmezustand hat den Geist des Rechtes jedes Menschen vor der Macht, der als blinde Fracht, zusammen mit dem Kolonialismus, importiert worden war, und im antikolonialen Kampf seinen größten Ausdruck fand, ausgelöscht, das Rechtsgebäude geschleift. Im „Nein“ des George Fernandez zur Diktatur war noch dieser Geist. Und einen Hauch davon gibt es noch im Humanismus, den Indira Gandhi auf dem Weg der Abkehr festzuhalten sucht. Die Welt soll hoffen, daß dieser Humanismus ihr nicht aus der Hand gleitet, wenn sie mit ihrem Feind jetzt abrechnen kann. George hat vorausgesagt: Sie werden ihn töten, wenn sie ihn fangen. Widerlegt sie ihn, dann gibt es noch Hoffnung; nicht nur für George

Fernandez, auch für Indiras Indien.

George war ein Außenseiter unter den Führern der indischen Arbeiterbewegung. Er kam nicht aus einer Brahmanenfamilie und er hat nicht sein Rüstzeug in Oxford oder Cambridge erworben. Sein Vater war ein Peon, auf der untersten Stufe der Babus, ein Bürodiener, ganz unten im Stehkragenproletariat: südindischer Bildungshunger, Katholizismus portugiesischer Herkunft. Den Ältesten seiner sechs Söhne, George, gab er den Jesuiten. In dieser Zeit begann die Indisierung der Kirche; indische Priester traten an die Stelle der Missionspriester. George war ungeduldig und wollte einer der ersten Inder sein vor einer indischen Ge-

meinde. Doch zwei Wochen vor der Weihe lief er davon.

„Ich habe mich doch nicht von der Kirche getrennt“, sagte zwanzig Jahre später der Sozialistenführer zu mir, „nur vom Seminar.“ Und: „Sie haben mich den Weg hinauf geführt. Und ich fühlte immer stärker, daß in Indien der Weg erst hinunter führt, zur Talsohle der Armut.“ Er schrieb sein erstes Pamphlet „Ist Gott?“

Fernandez hatte ein Lokal der Sozialisten in Brand gesteckt: „Den Sozialismus hielt ich für glaubensfeindlich, einen Köder, den der Teufel in der Tiefe der Hoffnungslosigkeit ausgeworfen hat.“ Das Lokal gloste noch, da kam der Sozialistenführer d'Mallo zu ihm. „Wir sprachen die ganze Nacht, am Morgen war ich überzeugt, daß es funktionieren wird, die Einheit von Christentum und Sozialismus in mir, dem Inder.“ An diesem Morgen begann der Streik der Hafenarbeiter von Man-galore: „Im Streik funktionierte es mit jedem Tag besser.“ 1949 in Bombay: Chawls und Slums, die Wohnstätten der Arbeiter; schon die ersten Hochhäuser, Burgen des schwarzen Geldes. Erst zwei Jahre sind seit der Befreiung vergangen, und in der Hauptstadt des indischen schwarzen Marktes waren Kongreßmacht und Geldmacht schon ineinander verwachsen. Mit den Marktkulis hat George seine Arbeit begonnen, dann kamen die Taxifahrer, zum Schluß die Hafenarbeiter. Dem Moloch aus Macht und Geld stand jetzt die Transportarbeitergewerkschaft gegenüber, von George Fernandez geführt.

Vor dem Koloß Kongreßpartei,

Tradition plus Macht plus Geld plus Nehru, zersplitterte nach 1950 die Sozialistische Partei. George Fernandez hielt sich an Doktor Lohia, den total unmarxistischen Sozialisten, Individualisten, Nationalisten. Lohia gab George die endgültige sozialistische Prägung, ließ ihm das Christentum und versah ihn mit der Lebensweisheit: Mißtraue der Familie Nehru! Lohia konnte noch gar nicht wissen, daß Vater und Tochter noch der Enkel, Sanjai Gandhi, folgen werde, er konnte noch nicht vor der Dynastie warnen. Im Feldzug für die Hindi-Sprache drang dann Georges Namen aus den Zentren der Arbeiterschaft in die Dörfer: „Nicht das Englisch, das fünf Prozent Ober-

sehicht verstehen, sondern Hindi, das alle bis zum Dekkan verstehen, soll Amts- und Gerichtssprache sein!“ Das war nicht Nationalismus, erklärte er mir später, es war der Versuch einer Spraohrevolution. Von der Tradition der Geheimspraehe der Elite und der Priester zur Nationalsprache, die allen verständlich ist: „Englisch ist die Brücke zur Welt, Hindi zu 500 Millionen indischer Bauern!“

Doch George war auch Nationalist, glühend, manchmal maßlos, wie er Ohrist, Sozialist, Gewerkschafter war. Im letzten Gespräch, das wir führten, fragte er sich, wo er und die Seinen auf den falschen Weg geraten seien: „Wir haben den Kolonialismus überall ausgelöscht. Und überall, wo er gewesen ist, -gibt es jetzt Unabhängigkeit und abhängige Diktaturen.“ Er befaßte sich jetzt, trotz des Drucks, der auf ihm lastete, mitv Rosa Luxemburg, wollte ihre Arbeiten ins Hindi übersetzen. Ich brachte ihm ihre „Briefe aus dem Gefängnis“ und übersetzte ihm Teile ins Englische. George schrieb mir: „Was Rosa Luxemburg auf dem Kongreß von 1898 gesaigt hat, erst Sozialismus in Polen, dann die Unabhängigkeit — das ist von den Großen der Sozialistischen Internationale verworfen worden. Vielleicht sind wir an dieser Wegkreuzung den falschen Weg gegangen.“

George Fernandez wunde 1973 Präsident der wieder vereinten, aber nicht genesenen Sozialistischen Partei Indiens, später der Eisenbahnergewerkschaften. An der Spitze der eineinhalb Millionen Eisenbahner führte er den Generalstreik. Er erkannte damals schon die zukünftii

Handschrift der zukünftigen Indira: daß für sie jener Streik die Generalprobe war. Die Forderungen der Eisenbahnarbeiter waren minimal. Die Taktik der Regierung war bisher immer der Kompromiß gewesen. Jetzt aber erzwang sie die Kraftprobe. Und als der Streik auf dem Höhepunkt war, ließ die Regierung in Rajastan die Atombombe explodieren: Hier Glanz und Ruhm der neuen Atommacht — dort die Saboteure der Nation. Die Kommunisten übten nationale Front und brachen die Streikfront. Aus dem Gefängnis forderte George Fernandez seine Eisenbahner auf, den Streik abzubrechen“. „Da waren Wirtsohaftsver-luste und Arbeiteropfer nicht mehr

zu rechtfertigen.“ Immer fühlte der Heißblütige den Zwang, sich rechtfertigen zu müssen. Selbst am Schluß, im Untergrund. Nach dem Eisenbahnerstreik wußte George, daß der verstorbene „Doktorsahib“ recht gehabt (hatte — und wohin jene Familie Indien führt. Er ließ sich und seine sozialistische Partei von der Welle der programmlosen, der vereinten Opposition mitreißen — und brach mit ihr zusammen.

Ausnahmezustand, Untergrund. Die Opposition verliert sich in den Gefängnissen oder versinkt im Meer des Konformismus. Einige Veteranen schmollen im Ausgedinge, «basteln anginer' Opposition im 'Altersheim. George Fernandez im Untergrund beunruhigt die Guten, stört sie. Der Ausnahmezustand herrscht nun fast ein Jahr lang unangefochten und wird nur von den eigenen Zersetzungskräften gefährdet. Ist George Fernandez einen Irrweg in die Isolierung gegangen, oder ist der Ausweg, den er aus der Isolierung sucht, der Irrweg? Er sagte noch: „Ich bin doch ein Schüler des Doktor Lohia. Ich bleibe gewaltlos.“

Doch er sagte es schon mit dem Trotz des von allen im Stich Gelassenen. Und er spielte mit dem Gedanken, daß ja Gewailtlosigkeit mit Sabotage zu vereinen sei, solange nur Material des Staates und kein Mensch beschädigt würde. Die Regierung beschuldigt ihn, Dynamit für Attentate gesammelt zu haben. Sie sucht nach Material, um einen „Reichstagsbrandprozeß“ inszenieren zu können, doch sie findet nichts, um George des Terrors, der Gefährdung von Menschenleben, zu bezichtigen.

Freunde haben ihm geraten, das Land zu verlassen. Er hat, seit er untergetaucht ist, Briefe geschrieben, die in ganz Indien zirkulierten. Briefe eines Rebellen im Stil Deutschlands von 1848. Und in seinem letzten Brief vor der Verhaftung schrieb er das „Nein“ zum Rat seiner Freunde. Sein Nationalismus hat sich in die Entschlossenheit verwandelt, im Land zu bleiben. Er schrieb — und sagte: „Im Ausland soll ich überwintern, damit ich da bin, wenn das Land mich braucht? Niemand ist unersetzlich. Andere werden dann da sein. Ich bin jetzt da und bleibe, wo der Kampf begannen hat und für mich enden wird.“

Er ist ein untersetzter Mann. Unter den Hafenarbeitern von Bombay ist er sicher nicht aufgefallen. Und auch das Bauernkhadi, das er trug, als ich ihn sah, saß richtig. Seine

Haut ist nicht ganz so dunkel wie die Haut der Menschen in Manga-lore, doch seine Augen sind so dunkel, und sie waren damals sehr ernst. Er sprach viel ruhiger, er war gelockerter als je zuvor. Er sprach von seiner Frau, die er nach Kanada geschickt hatte, mit dem Kind: „Damit sie kein Faustpfand finden, keine Geisel nehmen können.“ Sie sollte nach Europa reisen. Er genoß seine Rolle, und er lachte, als ich es ihm sagte, obwohl er schon wußte, mit welcher Szene sein Stück enden würde.

Warum er wohl aus der relativen Sicherheit ■> seines Versteckes nach Kalkutta ging? Er ist 'allein und im Haus eines Priesters verhaftet worden. Schutzhaftfälle sind für das Regime Staatsgeheimnis. Niemand erfährt Näheres. Und niemand in Indien stellt Fragen.

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